Ausgrenzung und Verfolgung

Thomas Beddies, Susanne Doetz und Christoph Kopke haben einen informativen Sammelband über „Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus“ vorgelegt

Von Kurt SchildeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Schilde

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Band „Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus“ geht zurück auf die im Sommer 2011 von der Historischen Kommission zu Berlin, dem Institut für Geschichte der Medizin der Berliner Charité sowie dem Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam im Landesarchiv Berlin durchgeführte Tagung „‚Die Bereinigung des Personalkörpers‘ – Biografische, personalpolitische und strukturelle Auswirkungen der Vertreibung jüdischer und politisch missliebiger Ärztinnen und Ärzte aus dem öffentlichen Gesundheitswesen im Nationalsozialismus“. Inhaltlich stand die Veranstaltung im Zusammenhang mit dem von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin geförderten Forschungsprojekt „Verfolgte Ärztinnen und Ärzte des Berliner öffentlichen Gesundheitswesens (1933-1945)“. Neben den Referentinnen und Referenten der Tagung haben sich an dem nun vorliegenden Sammelband eine Reihe weiterer Fachleute beteiligt.

Den Rahmen der Publikation bilden neun Überblicksaufsätze zu den historischen Grundlagen, zu jüdischen Ärztinnen und Ärzten in der Weimarer Republik und die zunehmende antisemitische Verfolgung in der NS-Zeit in Deutschland und Wien. Weitere Überblicksthemen sind die Vertreibungen des jüdischen Lehr- und Forschungspersonals aus den medizinischen Fakultäten sowie die anschließende Emigration. Mit der Zwangslage jüdischer Häftlingsärzte in Konzentrationslagern und der Entschädigung der Verfolgten werden die Überblicksaufsätze abgeschlossen.

Als ein Beispiel sei auf die Studie von Rebecca Schwoch über „Krankenbehandler“ eingegangen: Sie hat den treffenden Titel „Praktisch zum Verhungern verurteilt“ und steht im Zusammenhang mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Medizinische Versorgung von Juden für Juden? ‚Krankenbehandler‘ in Berlin und Hamburg, 1938 bis 1945“. Die Historikerin beschreibt zunächst die gesetzliche Entrechtung der jüdischen Ärztinnen und Ärzte und geht auf biografische Beispiele ein. Die durch die Verfolgung der Juden forcierte Auswanderung führte dazu, „dass die Versorgung jüdischer Patienten immer schwieriger wurde“ und die Gemeinde sogar dazu aufforderte, „uns nicht im Stich zu lassen“. Eine Lösung für dieses Dilemma konnte es nicht geben und so wanderten viele – nicht nur Ärztinnen und Ärzte – aus, solange es noch ging. Die hatte zur Folge, dass es Ende 1938 im Deutschen Reich nur noch 285 so genannte „Krankenbehandler“ gab, allerdings kann diese Zahl weder eindeutig bestätigt noch widerlegt werden. Detailliert geht Schwoch auf die Lage der „Krankenbehandler“ ein und weist auf die mühsame und oft schwierige Arbeit hin: So mussten beispielsweise Patienten behandelt werden, die einen Suizidversuch hinter sich hatten. Außerdem erinnert die Historikerin an die „höchst gefährliche Behandlung von illegal lebenden Juden“.

Die Überblicksthemen wie auch die weiteren 13 Fallstudien werden von 26 ausgewiesenen Fachleuten behandelt. Die Fallstudien beziehen sich auf einzelne Personen und Orte. Hingewiesen werden soll auf zwei Beispiele: Die von Thomas Lennert porträtierte Ärztin Lotte Landé wurde 1890 in Elberfeld (heute: Wuppertal) geboren und arbeitete ab 1931 als Beamtin auf Lebenszeit in Frankfurt am Main als Stadtärztin. Sie war politisch aktiv, im Vorstand des Bundes deutscher Ärztinnen und Mitglied des Vereins sozialistischer Ärzte. 1933 erfolgte ihre Entlassung wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ und ihrer „nichtarischen Abstammung“. Nach dem Suizid ihres Vaters zog sie mit ihrem Mann in die USA. Erst nach dem Kriegseintritt erhielt sie im April 1941 eine Stelle als Kinderärztin und ging 1951 in Pension. 1959 kehrte das Ehepaar nach Deutschland zurück, wo Landé auf ihre alten Tage noch ein „Heim für vier nervöse Kinder“ unterhielt. Sie verstarb 1987 an Darmkrebs.

Eine völlig entgegengesetzte Biografie ist der Lebensweg von Walter Lustig, mit dem sich Gideon Botsch in seinem Beitrag befasst: Der preußische Medizinalbeamte wurde als „Ein-Mann-Judenrat“ in Berlin zum ausführenden Organ der Geheimen Staatspolizei: „Von Zeitzeugen und vor allem Zeitzeuginnen wird Lustig mit starken negativen Attributen belegt.“ Der 1891 in Ratibor geborene Lustig ist für viele jüdische Überlebende „zu einem Symbol der Kollaboration aus moralisch niedrigen, egoistischen Motiven“ geworden. Das Anliegen von Botsch ist es, „den negativen wie positiven Mythenbildungen um seine Person ein differenziertes Bild entgegen zu setzen“. Nach dem Studium der Medizin promoviert Lustig in Breslau und anschließend an der Philosophischen Fakultät. Dr. med. et phil. Walter Lustig heiratet 1927 eine (nichtjüdische) Ärztin und tritt einen Tag nach der Hochzeit seinen Dienst im Polizeipräsidium Berlin an. Auch hier verfolgt er seine Karriere: Er wird Leiter des Medizinaldezernats, Oberregierungsrat und schließlich Medizinalrat und veröffentlicht  Fachliteratur. Lustig beteiligt sich am Leben der Jüdischen Gemeinde und wird Mitglied der Wohlfahrtskommission. 1933 wird er vom Polizeidienst ausgeschlossen, bleibt aber in der Gesundheitsverwaltung der Jüdischen Gemeinde aktiv und übernimmt die Leitung des Arbeitsgebiets Gesundheitsfürsorge der „Reichvereinigung der Juden in Deutschland“.

Lustig wird mit der medizinischen Versorgung der Sammellager für die Deportationstransporte beauftragt, bis er 1943 nach der Auflösung der letzten jüdischen Institutionen als Chef eines kleinen Stabes in Berlin bleibt. Botsch kommt zu dem Schluss: „Er ist nichts weiter als der jüdische Beauftragte der Gestapo, und – was schwerer wiegt: er handelt auch entsprechend.“ Nach der Befreiung wird er von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Leiter des Gesundheitsamts von Berlin-Wedding ernannt. Als bekannt wird, dass Lustig bei den Deportationen eine entscheidende Rolle gespielt hat, erfolgt seine Verhaftung. Danach verliert sich seine Spur. Bei der Beurteilung des Lebens von Walter Lustig im Lichte der Quellenüberlieferung besteht „weder Grund zur Dämonisierung noch zur Heroisierung“, so Botsch. Die Studie endet mit dem treffenden Satz: „In ihrer Ambivalenz zeigt seine Biografie auch das tragische Schicksal eines jüdischen Arztes im Nationalsozialismus.“

Die informativen Überblicksaufsätze wie auch die unterschiedlichen Fallstudien zeigen, wie sich der Antisemitismus und die Verfolgung auf jüdische Ärztinnen und Ärzte ausgewirkt hat. Der Band zeigt ein facettenreiches Bild, macht aber auch deutlich, dass noch erheblicher Forschungsbedarf besteht. Ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister runden – neben biografischen Daten der Autorinnen und Autoren – den Band ab.

Titelbild

Thomas Beddies / Susanne Doetz / Christoph Kopke (Hg.): Jüdische Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung.
Europaisch-Judische Studien. Beitrage.
De Gruyter, Berlin 2014.
413 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110305647

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