Holzschnitte und Briefe von der Insel des zweiten Gesichts

Stefan Knechtel illustriert drei mallorquinische Texte Albert Vigoleis Thelens

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leben und Werk des Schriftstellers Albert Vigoleis Thelen sind auf besondere Weise mit der Insel Mallorca verbunden. Gemeinsam mit seiner späteren Frau Beatrice Bruckner besuchte er 1931 die Balearen-Insel, die er erst 1936, als er vor den spanischen Falangisten in die Schweiz fliehen musste, wieder verließ. Berühmt wurde der Aufenthalt durch Thelens umfangreichen Roman Die Insel des zweiten Gesichts (erschienen 1953), welcher zugleich sein Hauptwerk ist. Der Untertitel Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis weist auf den autobiographischen Charakter des Romans hin. Allerdings durchlaufen diese Erinnerungen eine literarische Bearbeitung und Veränderung im Dienste einer dichterischen „Wahrheit“; Thelen ordnet und erzählt die Geschehnisse seiner Poetik gemäß neu. Für die Literaturwissenschaft sind daher Zeugnisse aus seiner mallorquinischen Vergangenheit von besonderem Interesse und Reiz. Drei Briefe, die Thelen zwischen 1931 und 1933 von der Insel verschickte, liegen nun ediert und mit Holzschnitten Stefan Knechtels illustriert vor.

Handhabung, Betrachtung und Lektüre dieses großformatigen, aber schmalen Buches sind eine besondere sinnliche Erfahrung. Die Briefe werden dem Leser, wie es für diesen Anlass angemessen ist, in einem Umschlag überreicht, der durch einen gelben Schuber mit grünem Rand repräsentiert wird. Das Buch gleitet sanft in die Hand und beeindruckt durch seine schlichte Gestaltung. Die Finger bewegen sich über den rauen Umschlag, die Augen blicken auf ein Haus, sehen drei Bäume und erkennen Albert Vigoleis Thelens Namen als Verfasser der Drei Briefe. Der weitere Titel Im Lande des Don Quijote deutet an, dass es sich bei den Briefen wohl keinesfalls um nüchterne, sachliche Mitteilungen handelt, sondern dass sie Ereignisse und Zusammenhänge – analog zu Thelens Die Insel des zweiten Gesichts – auf seine ihm eigene literarische Art darstellen werden. Dieser Eindruck wird durch den links vom Titelblatt abgedruckten Holzschnitt verstärkt. Er zeigt eine spanische Windmühle und verweist auf die literarisch-künstlerisch-mallorquinische Welt, zu deren Alltag freilich diese Windmühlen gehören, gegen die aber ein Don Quijote wie Thelen zu kämpfen hatte.

Doch bevor die Insel betreten wird, ordnet der Thelen-Experte Jürgen Pütz die Briefe kurz und gekonnt in ihren historischen Kontext ein und bezeichnet dabei Fund und erstmalige Edition des Familienbriefs „als kleine Sensation“ für die Thelen-Gemeinde. Dieser Familienbrief vom 13. Dezember 1932 mit einem Nachtrag vom 20. Dezember wird eingerahmt von dem „Hurenbrief“ vom 29. August 1931 und dem „Reiseführerbrief“ vom 23. Juli 1933, die bereits in einer früheren Ausgabe ediert wurden.

Die Bezeichnung der Briefe als Huren-, Familien- und Reiseführerbrief bestätigt die Vermutung, dass Thelen sich keineswegs darauf beschränkt, an seine Empfänger Fakten und sachliche Berichte zu übermitteln. Tatsächlich versieht er seine Briefe mit einem „zweiten Gesicht“, indem er die Wirklichkeit literarisch formt und so den Inhalten eine eigene Qualität gibt, die über die Wirklichkeit hinausgeht, sie aber zugleich deutlich vor Augen führt. Man wird Zeuge des „Hurenabenteuer[s]“, das Thelen und seine Lebensgefährtin bestehen müssen. Ferner erfährt man, wie der Schriftsteller seiner Familie farbig und lebendig von seinem Alltag, seinen Erlebnissen und Plänen auf der Insel erzählt. Dass Thelen der Schrift eine heilsame Wirkung zuspricht, wird in der Bitte an seine Familie deutlich, seiner Mutter, die mit gebrochenem Fuß im Krankenhaus liegt, ein Gebetbuch zu schenken. Für den Reiseführerbrief nimmt Thelen die Perspektive eines Experten in einem „Reisebureau“ ein, die er allerdings gekonnt konterkariert, indem er humorvoll und übertrieben darüber Auskunft gibt, was üblicherweise eben nicht im „Baedeker“ steht.

So wie die Briefe keinesfalls zu dem Zweck geschrieben wurden, Fakten, Geschehnisse und Umstände im Sinne eines Berichtes wirklichkeitsgetreu wiederzugeben, sondern eine literarisch „wahre“ Darstellung im Sinne Thelens anvisieren, so geht es bei der Ausgabe nicht um eine philologische, sondern um eine ästhetische Edition der Briefe. Der Pflicht des Philologen wird durch das kurze Vorwort und die Anmerkungen zum Familienbrief leidlich Genüge getan. Allerdings fehlen genaue Hinweise zur Überlieferung und Editionsweise. Gerne hätte man etwas über den Zustand der Briefe erfahren, beispielsweise auf welchem Material und mit welchen Schreibwerkzeugen Thelen sie erstellte. In den Briefen finden sich Hinweise, dass Thelen sie wohl auf einer Schreibmaschine getippt hat.

Obwohl Angaben dazu fehlen, inwiefern das Typoskript die Gestaltung des Drucks beeinflusste, ist davon auszugehen, dass Matthias Gubig als Gestalter des Buches sich nicht an den Typen und am Zeilenfall der Vorlage orientierte, sondern den Briefen eine historisch angemessene und eine dem Format des Buches stimmige ästhetische Form geben wollte. Dabei erweist sich seine Entscheidung, die 1928 von Emil Rudolf Weiß entwickelte Schrift „Weiß Antiqua“ als Grundlage für den Druck zu nehmen, als gute Wahl. Die Schrift imitiert nicht den getippten Brief, stattdessen nimmt sie den Leser über die Type mit in die Zeit um 1930. Das besondere ästhetische Erlebnis der Lektüre wird dadurch verstärkt, dass der Leser mit der Schrifttype auf Tuchfühlung gehen kann, wenn er mit seinen Fingerkuppen über die Somerset-Bütten streicht und die gesetzten Buchstaben erspürt. Schrift und Papier verleihen den Briefen so eine besondere Aura, die passend zu Thelens Schreibweise ist.

In diesem Sinne schuf Stefan Knechtel die Holzschnitte, welche den Inhalt der Briefe nicht wiederholen, sondern eine mallorquinische Stimmung der frühen 1930er-Jahre einfangen. Die Bilder wurden zwischen die Briefe platziert und stehen für sich. Knechtel skizziert in den Holzschnitten eine künstlerische Variante der Darstellung von Realität, wie sie Thelen in seinen Briefen und weiter in seinem Roman ausführt. Insofern verstärken die Holzschnitte die Aura des Buches und korrespondieren mit der ästhetischen „Wahrheit“ Thelens. Briefe, Schrift und Holzschnitte sowie die Gestaltung des Buches ergeben so ein stimmiges, zu Thelens Werk und Poetik passendes Gesamtkunstwerk.

Nach dem Betrachten der Holzschnitte und der Lektüre der Briefe schiebt der Rezensent das Buch beeindruckt zurück in den Schuber und denkt über die gelungene Komposition von Schrift, Bild und Text nach. Er spürt weiter die eigentümliche Aura, die von dem Buch ausgeht, in sich, um mit den Bildern Knechtels im Kopf, zum Bücherregal zu gehen und Thelens einzigartigen und grandiosen Roman Die Insel des zweiten Gesichts hervorzuholen und wieder zu lesen.

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Albert Vigoleis Thelen: Im Lande des Don Quijote. Drei Briefe.
Mit Holzschnitten von Stefan Knechtel.
Quetsche, Witzwort 2014.
55 Seiten, 380,00 EUR.
ISBN-13: 9783939307617

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