Zwischen Selbstmitleid und Selbstentwurf

Heimo Schwilk portraitiert den liebenden Rilke aus der Sicht seiner Geliebten

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Rainer Maria Rilke waren Frauen die „vollkommensten Formen“, in die er seine Verse gießen konnte. Sein ganzes Leben befand er sich auf der Suche nach der vollkommenen Liebe – und liebte viele Frauen. Das lebenslange Wanderleben einer ruhelosen Seele, die unter anderem in Russland, Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland einem unerreichbaren Ideal nacheilt und dabei immer wieder von sich selbst eingeholt wird, erregt bis heute eine ungebrochene und geradezu magische Faszination. Rilkes Suche nach der Liebe, seine Affären und das Widerspiel von Einsamkeit, Sehnsucht und Flucht sind daher bereits Gegenstand vieler Publikationen gewesen. Nun legt Heimo Schwilk unter dem Titel „Rilke und die Frauen“ eine „Biografie eines Liebenden“ vor.

Weshalb eine solche Biografie eingedenk der langen Geschichte der Rilke-Forschung erscheinen muss und ob Heimo Schwilk dieser Geschichte etwas hinzuzufügen hat, muss gefragt und darf angezweifelt werden. Heimo Schwilk schreibt in seinem Vorwort, die Rilke-Forschung habe sich „an Rilkes schillernder Beziehung zu den Frauen und seinem empathischen Begriff der Liebe abgearbeitet“. Dennoch bliebe ein Mysterium: „die Magie eines Dichters, der es verstand, sein Leben […] in seinem Werk aufgehen zu lassen“. Es kann hier bereits vorweggenommen werden: Dieses Mysterium entschlüsselt Schwilk nicht, aber er erlaubt einen erfrischend anderen Blick auf den liebenden Rilke, indem er seine Geliebten zu Wort kommen lässt.

Eindringlich beschreibt der Autor die kurzen Begegnungen Rilkes mit Schönheiten wie beispielsweise der Comtesse Mathieu de Noailles. Nach dem ersten Zusammentreffen setzte „die übliche Briefflut“ Rilkes ein, er verehrte sie aus der Ferne. Nur aus der Distanz konnte Rilke in die Gefühlswelt der Comtesse vordringen, „die Nähe der sinnlichen Frau aber verschlägt ihm die Sprache“. Ängstlich zog er sich zurück und rechtfertigte sich, er würde, sähe er sie öfter, „ihr Sklave und könnte nur noch ihr Leben leben“. Rilke klagte, „feierte die Liebe und entzog sich ihr, als wolle er der Flamme, die er entzündet hatte, nicht zu nahe kommen“, schreibt Heimo Schwilk. Er nutzt dabei den schier unerschöpflichen Schatz der Briefe Rilkes, aber auch dessen Tagebücher und die Aufzeichnungen der Frauen. Er lässt die Frauen sprechen und nimmt sich selbst zugleich mit Kommentaren auffällig und angenehm zurück. Der Anhang des Buches mit Anmerkungen, Bibliografie und Personenregister umfasst immerhin 24 Seiten. Dank der Vielzahl von Quellen und Zitaten entstehen Dialoge, die den Leser fesseln und die Situationen nachempfinden lassen. Schwilk erzählt im Präsens. Dadurch werden die Geschichten werden lebendig im Jetzt, die Personen sprechen direkt zueinander – und vor allem wird dem Leser die Gelegenheit gegeben, Rilke sehr nahe zu kommen, indem man ihn aus der Sicht der Geliebten sieht.

Denn, das ist bekannt, in der apologetischen Erinnerung verklärte Rilke die Begegnungen – die Beziehungen zu seinen Geliebten ebenso wie seine Arbeit mit Auguste Rodin oder auch das Zusammentreffen mit Leo Tolstoi. Schwilk zieht unter anderem das Tagebuch von Lou Andreas-Salomé heran, um das von Rilke beschriebene mystische Erlebnis tiefer Übereinstimmung mit Tolstoi zu relativieren. Rilke neige zur Überhöhung aller Erscheinungen. Seine Freundin findet deutliche Worte. Lou Andreas-Salomé, eine emanzipierte Frau, selbst Autorin, die Bücher über Weiblichkeit und Psychosexualität schrieb, veröffentlichte außerdem nach des Dichters Tod einen Erinnerungsband, der nachzeichnet, „welchen Ängsten Rilke lebenslang ausgeliefert war, wie sehr ihm alles Physische zu schaffen machte und wie abhängig er als Dichter von der Zuwendung seiner älteren Freundin war“.

Rilke, den Heimo Schwilk immer wieder als hässlichen Menschen mit karikaturhaften Zügen bezeichnet, nutzte die Macht der Worte, um „ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen“ zu finden. Es ist eben nicht die weltverändernde Macht des Dichterwortes, die Rilke antrieb. Es ist die Suche nach der Liebe, die bei Rilke auch „Synonym für die göttliche, welterschaffende Kraft – wie die Kunst“ wurde. Zwischen Selbstmitleid und Selbstentwurf und unter eingebildeten und echten Krankheitszuständen kreist Rilke wie sein berühmter Panther im Gedicht, das Symbol für das eingekerkerte Wesen, den Mensch, der gleichsam nur noch um sich selbst kreist und die Welt nicht mehr wahrnimmt. Rilke erfasst im Gedicht „Der Panter“ den „Welt-Verlust im Kunst-Gewinn“.

Er imaginierte „beim Schreiben immer ein Gegenüber“, brauchte die Distanz, suchte die Nähe und zog aus dieser Sehnsucht seine dichterische Kraft. Im „Florenzer Tagebuch“ hatte Rilke die Einsicht festgehalten, dass die Einsamkeit die wesentliche Bedingung des Dichter-Könnens ist. Schwilks Buch unterstreicht diese Erkenntnis. Das häufig kritisierte lyrische Weltverhältnis Rilkes – Rilke gab Worte und nahm Geld – relativiert der Autor, indem er den Frauen mehr als eine ästhetizistische Hingabe und eine lockere Börse erlaubt. Marie von Thurn und Taxis bezeichnet Heimo Schwilk als „Bewunderin, Gönnerin“ und „Mahnerin“. Sie sei streng mit Rilke gewesen, sie habe ihn geführt und für ihn entschieden, „schrecklichen Anfällen tiefster Melancholie und Mutlosigkeit“ zu entgehen, indem sie ihm einen Ortswechsel verordnet und eine Spanien-Reise bezahlt: „Die souveräne Fürstin nimmt ihren Dichter an die Hand.“

Magda von Hattingberg wiederum konnte sich Rilke weder als Vaterfigur noch als Liebhaber vorstellen. Ein Mann, der geführt werden muss, schien ihr suspekt. Rilke sei, so schreibt Schwilk, „wie ein Wesen aus einer anderen Welt, eher Engel als Mann“. Dennoch bleibt sie bei ihm und genießt beschwingte Tage in Paris mit ihm. Die Affäre ereignet sich in einer Zeit, in der Rilke längst mit Clara Westhoff verheiratet ist und ein Kind hat. Nicht Rilke setzt der Romanze ein Ende, sondern die Fürstin zu Thurn und Taxis. Sie sagt Magda: „Seine Aufgabe ist es, allein zu sein […]. [Der Schmerz] reißt ihn hoch zu neuen großen schöpferischen Aufgaben.“ Rilke lebte zuweilen wider alle Vernunft. Im Spiegelbild seiner Geliebten wird dies umso deutlicher.

Heimo Schwilk ist ein lebendiges Portrait gelungen. In einer Zeit der postmodernen Diversität der Rilke-Forschung gleicht „Rilke und die Frauen“ einem tiefen Atemzug und kommt unbelastet und frisch daher. Schwilk beweist, dass es möglich ist, sich einem scheinbar erschöpft erforschten Thema aus einem neuen Blickwinkel zu nähern. Es ist ihm eine von ideologisch geprägten Auslegungen unabhängige Darstellung der Künstler- und Kunstauffassung Rilkes gelungen. Nicht zuletzt regt die Lektüre der Biografie des Liebenden wiederum zur Lektüre der Dichtung Rilkes an, was zweifellos ein weiterer Gewinn des Buches ist.

Titelbild

Heimo Schwilk: Rilke und die Frauen. Biografie eines Liebenden.
Unter Mitarbeit von Uwe Wolff.
Piper Verlag, München 2015.
336 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783492056373

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