Phantastischer Sex

In so mancher Story des letzten Bandes ihrer sämtlichen Erzählungen läuft James Tiptree jr. noch einmal zur Höchstform auf

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gelegentlich ist zu hören, die Storys, die James Tiptree jr. schrieb, nachdem ihr sorgsam gehütetes Pseudonym sehr zu ihrem Ärger gelüftet wurde, fielen gegenüber den früheren ab. Es mag sogar sein, dass dies auf die eine oder andere Geschichte ihres Spätwerks tatsächlich zutrifft. Andererseits schrieb sie ihre vielleicht schönste Story überhaupt erst ein Jahrzehnt, nachdem ihre wahre Identität bekannt geworden und sie als Alice B. Sheldon ‚enttarnt‘ worden war.

So lässt der nun erschienene siebte Band ihrer sämtlichen Erzählungen mit eben dieser und sieben weiteren Stories aus den Jahren 1985 bis 1987 das Herz eines jeden Science-Fiction-Fans höher schlagen. Dabei führen die Geschichten keineswegs ausnahmslos auf ferne Welten in den Weiten des Alls. Manche gewähren etwa nur einen Blick in die nähere Zukunft des heimatlichen Planeten, die heute schon seit geraumer Zeit Vergangenheit ist. Nicht einmal um lupenreine Science-Fiction handelt es sich bei jeder der Erzählungen. Dafür hat sich aber eine wahrhaft teuflische Geschichte unter die Stories gemischt. Sie bereitet allerdings keineswegs weniger Vergnügen als Tiptrees Science-Fiction-Phantasien. In diesem Fall aber natürlich ein diabolisches. In einer anderen Story wiederum berichtet die „Chefarchivarin der NASA“ von einem geradezu göttlichen „Erstkontakt von Menschen mit Außerirdischen“.

Natürlich darf in einem gestandenen Science-Fiction-Band auch eine Zeitreisegeschichte nicht fehlen. Die Story „Oh kehre, selige Zeit, mir zurück“ bietet sie. Die Erzählung beginnt in einer erkennbar US-amerikanischen Gesellschaft der wohl nicht allzu fernen Zukunft und unternimmt mit ihren studentischen ProtagonistInnen alsbald einen Zeitsprung über etwa fünfzig, sechzig Jahre hinweg in eine (h)ausgemachte Dystopie, deren Ausgestaltung – das muss man leider sagen – schon in den 1980er-Jahren nicht sonderlich originell war. Mag es sich auch um eine in der Zukunft angesiedelte Geschichte handeln, so hängen ihre jugendlichen ProtagonistInnen zudem befremdlich konservativen Vorstellungen und Lebensentwürfen an, die eher in die Mitte des 20. Jahrhunderts passen als in die 1980er-Jahre, in denen sie erdacht wurden, und – so darf man zumindest hoffen – schon gar nicht in die Zukunft, der wir alle entgegenleben. Andere Figuren vertreten gar ein regelrecht reaktionäres Frauen- und Mutterbild. Auch wird ein auf der Hand liegendes Zeitparadoxon stillschweigend ausgeblendet. Doch sind Zeitreise und Dystopie nur Staffage für die Themen, die Tiptree hier wirklich interessieren. Die liegen eher auf psychologischem Gebiet, verhandelt die Geschichte doch Fragen der Liebe, ein suizidales Vorhaben, den Reifungsprozess eines Mädchens, ihren seelischen Zwiespalt und ihr letztendliches Versagen.

Auch in einer weiteren dieser wenige Jahre und Monate vor Tiptrees Freitod verfassten Geschichten thematisiert die Autorin das Für und Wieder des Suizids, wengleich auch eher am Rande. Wie über all die Jahrzehnte ihres Schaffens hinweg wird jedoch meist ein ganz anderes Thema verhandelt: die Sexualität in all ihrer Vielfalt, mit all ihren Freuden und all ihren Gefahren – realen wie denkbaren.

Die im „Zeitalter der Sternreisen und Formverwandlungen“ handelnde Geschichte „Herz Drei“ etwa erzählt von einer „ganz normalen hochqualifizierten Nachwuchsvertreterin für Luxusartikel“, die in einem Sonnensystem mit dem sprechenden Namen Deneb phantastischen Sex mit zwei Aliens hat, wobei die detaillierte Darstellung des in einem org(i)astischen „Körperniesen“ gipfelnden Sexualaktes die Lesenden eher amüsieren denn erotisieren dürfte. Nun ist Sex zwar ein gängiges Thema Tiptrees, anders als so oft in ihren Geschichten mündet der Sexualakt hier jedoch einmal nicht in eine Katastrophe. Wieso sich allerdings niemand für die „sexuellen Gewohnheiten“ der „allzeit bereiten“ Ovidianer interessiert, bleibt ein Geheimnis. Lässt die Erzählung das wissbegierige Interesse der Lesenden in diesem Fall auch unbefriedigt, so werden sie hierfür durch eine weitere Geschichte aus der Sicht einer Wasserpflanze entschädigt, in der es ebenfalls um Sex oder doch zumindest um Fortpflanzung geht.

Mit der zugleich wunderschönen und überaus traurigen Erzählung „Die Farbe von Neandertaleraugen“ wiederum zeigt Tiptree, dass auch Zweikontakte manch Unerwartetes zutage fördern und dabei höchst ereignisreich sein können. Tiptrees Fortpflanzungsphantasien erreichen hier noch einmal einen letzten Höhepunkt. Dabei ist der als „Sensitiver eines Trupps für Erweiterten Kontakt“ tätige Protagonist eigentlich nur zu einem „Entspannungsurlaub“ auf dem Planeten mit dem wörtlich zu nehmenden Namen Nass gelandet.

Einige der vorliegenden Erzählungen sind weniger pessimistisch als Tiptrees frühere Geschichten und insofern womöglich noch phantastischer. Ganz und gar nicht optimistisch und bedauerlicherweise auch nicht sonderlich phantastisch ist allerdings die titelstiftende Story „Yanqui Doodle“. Im Gegenteil, sie ist gar nicht einmal so unrealistisch. Man müsste an Stelle des Krieges mit den Guevaristen Lateinamerikas vielleicht nur einen Islamischen Staat in Nahost setzen und natürlich hier und da noch das eine oder andere aktualisieren. Dabei sind Tiptrees Erzählungen eigentlich „nicht der Ort, um alte Weltuntergangsszenarien zu beschwören“, vielmehr kommt in ihnen, wie in jeder anständigen Science-Fiction-Geschichte, „letztendlich alles anders“. Die Entwicklung des Plots von „Yanqui Doodle“ aber ist allzu absehbar.

Auf eines jedoch ist bei Tiptree Verlass, die Lakonie ihrer Erzählweise ist immer wieder urkomisch. Wenn sie ihre gut mit allerschwärzestem Humor gefüllte Kiste voller WeltraumfahrerInnengarn öffnet, kann einem das Lachen allerdings auch schon mal im Halse stecken bleiben. Die Autorin wird es so gewollt haben.

Sich zu Tode zu langweilen, mag hingegen zwar einem ihrer Protagonisten drohen, jedoch ganz sicher nicht ihren LeserInnen. Die schlagen sich womöglich noch ganze Nächte mit Fragen um die Ohren, die Tiptree offen gelassen hat. Wieso lag beispielsweise der verhängnisvolle Revolver wirklich in der Nachttischschublade?

Titelbild

James Tiptree Jr.: Yanqui Doodle. Sämtliche Erzählungen, Band 7.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bauche-Eppers, Elvira Bittner, Laura Scheifinger und Andrea Stumpf.
Septime Verlag, Wien 2015.
517 Seiten, 23,30 EUR.
ISBN-13: 9783902711335

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch