(Re-)Volten gegen die Tradition

Zu César Airas Novellen „Wie ich Nonne wurde“, „Der Beweis“ und „Der kleine buddhistische Mönch“

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

César Aira ist, glaubt man den Verlagsmeldungen und Feuilletonartikeln der letzten Monate, ein enfant terrible der Weltliteratur, das jedes Jahr mehrere Bücher veröffentlicht (mehr als 80 insgesamt) und dabei die Literatur selbst immer wieder auf den Kopf stellt. Dass dabei auch der Vergleich mit dem Leuchtturm der lateinamerikanischen Literatur, Jorge Luis Borges, bemüht wird, ist in erster Linie als Verkaufsargument zu werten. Airas Texte jedoch entwickeln eine Stimme und einen Ton von hoher Individualität. Der Autor erzählt Geschichten, die in vielem über jene von Borges hinausgehen, aber in anderer Hinsicht der Komplexität von Borgesʼ Texten nicht nahekommen. Ein Vergleich sagt an dieser Stelle also rein gar nichts. Airas Texte müssen und können für sich selbst stehen, sind sie doch, soweit man das an den vorliegenden deutschen Übersetzungen absehen kann, auch immer gegen bestehende Traditionen der Literatur gerichtet beziehungsweise gewinnen bekannten Erzählmustern neue Wendungen ab. Leider hatten die Texte Airas bislang keine feste verlegerische Heimat in Deutschland: Bisher sind insgesamt sieben Romane bei vier verschiedenen Verlagen erschienen. Nun hat der Verlag Matthes & Seitz damit begonnen, eine auf zehn Bände angelegte „Bibliothek César Aira“ herauszubringen, deren erste drei Bände bereits vorliegen. Für den Herbst wurden bereits zwei weitere Bände angekündigt.

Wie ich Nonne wurde

Die kurze Novelle Wie ich Nonne wurde erschien 1992 und liegt nun erstmals auf Deutsch vor (die Übersetzung aller drei Bände besorgte Klaus Laabs, der auch als Herausgeber der „Bibliothek“ fungiert). César, ein Mädchen von ungefähr acht Jahren, erzählt davon, wie sie Nonne wurde. Berichtet wird von einer unerhörten Begebenheit, die eine ganze Reihe an Ereignissen auslöst und am Ende in einem ebenso unerwarteten wie auch zwingenden Coup endet. Als Coming-of-Age-Text anmutend, berichtet César von den Schwierigkeiten des Aufwachsens in einer ihr unwirtlich gesonnenen Gesellschaft. Die Welt des Mädchens ist von subtiler und auch offener Gewalt und ständigen Behauptungskämpfen geprägt.

Die Novelle beginnt damit, dass César mit ihrem Vater in der neuen Stadt ein Eis essen geht, das offenbar verdorben ist. Weil sie nur sagen kann, dass es nicht schmeckt, wird der Vater wütend und ausfallend, bis er schließlich selbst das Eis probiert und es angewidert ausspuckt. Er will den Eisverkäufer zur Rede stellen, doch der will nicht klein beigeben, was den Vater nur wütender macht, bis er den Eisverkäufer im Bottich mit dem verdorbenen Eis erstickt. Von hier aus entspinnt sich die Geschichte des Mädchens César, das seinen Vater ins Gefängnis gebracht hat. Niemand ist vollkommen unschuldig in dieser Welt, auch die Kinder nicht, alle tragen ihre kleinen und großen Sünden mit sich herum. Was die Novelle Wie ich Nonne wurde aber vor allem so lesenswert macht, ist die Verwirrung auf nahezu allen Ebenen. Das beginnt schon beim Titel, auf dessen Einlösung man ungeduldig wartet, ohne dass es je zu irgendeiner religiösen Wandlung käme. Und auch die Perspektive des Kindes wird an vielen Stellen aufgebrochen, was nicht nur an der unspezifischen Geschlechtszuordnung erkennbar wird. Auch spricht César nicht wie ein achtjähriges Kind, vielmehr ist sein Denken geprägt von tiefgehenden Überlegungen. Am Ende wird sich herausstellen, dass auch die Erzählform selbst aus dem klassischen Rahmen fällt, dass die Erzählung aus einem unmöglichen weil unzugänglichen Raum erzählt wird.

Der Beweis

Ebenso kühn wie radikal verfährt auch die Novelle Der Beweis, die nur kurze Zeit nach Wie ich Nonne wurde entstand. Es geht um einen Liebesbeweis katastrophischen Ausmaßes. Schon der erste Satz macht deutlich, dass es dem Buch um Radikalität zu gehen scheint: „Wollen wir ficken?“ wird da Marcia, ein rundliches Mädchen gefragt. Nicht von einem Mann, sondern von Mao, einem gleichaltrigen Punk-Mädchen, das seine „Frau“ Lenin im Schlepptau hat. Soweit die Konstellation, die den kurzen aber spannungsgeladenen Text am Laufen halten wird. Und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn einen Großteil der Novelle gehen die Mädchen durch die Straßen. Obwohl sich Marcia den Annäherungsversuchen entziehen möchte, entkommt sie der Hartnäckigkeit Maos und Lenins nicht. Sie verfolgen das Mädchen auf Schritt und Tritt, versuchen sie ständig zum „ficken“ zu überreden, bis Marcia irgendwann resigniert und die zwei Mädchen zu dulden beginnt. Doch die Faszination ist vorher schon dagewesen. Marcia ist von den radikalen Ansichten der Punk-Mädchen, ihrem Nihilismus, den diese aber vehement als noch zu harmlos zurückweisen, derart in Bann gezogen, dass sie sich davon nicht lösen kann, auch wenn sie immer wieder daran denkt, denn zu sehr ist sie in einer harmlosen, vielleicht bürgerlichen Gedankenwelt gefangen.

In Der Beweis geht es um die Auslotung der Liebe und deren Grenzen oder, was zutreffender wäre, um deren Grenzenlosigkeit. Denn das Transgressive jeder erotischen Anziehung ist schon immer ein Thema der Literatur gewesen, man denke etwa an Texte von de Sade oder auch Georges Bataille. Dass es in Airas Der Beweis aber nicht zum Liebesakt, zur Verwirklichung kommt, ist programmatisch und wirft ein Licht auf die theoretische Dimension des Textes: Liebe kann man nicht festhalten, sie ist kein Zustand, sondern stets im Kommen oder Gehen. Das Verlangen nach Liebe ist der Motor der Novelle, ein Verlangen, das letztlich uneinlösbar ist. Die Katastrophe am Schluss – ein wahres Massaker mit Schüssen, Verbrennungen und Explosionen – ist der textuelle Orgasmus, der sich zwischen den drei Mädchen im Text nicht mehr erfüllen wird, der sich aber ankündigt, wenn „drei Gestirne, […] hinaus in das große Kreisen der Nacht“ fliehen.

Das Novellistische in Airas Text dingfest machen zu wollen, wird diesem nicht gerecht, denn was zum Beispiel die unerhörte Begebenheit sein soll, verschwimmt in der schieren Anzahl des Unerhörten, das den Roman durchzieht. Ist es die permanente Aufforderung zum lesbischen Sex, die ständigen Rebellionen gegen den gesellschaftlichen Konsens, Marcias beständige Abwehr und ihr Zögern – oder schließlich der finale Liebesbeweis? Letztendlich ist das nicht wichtig, denn die Radikalität des Textes überspielt und übertreibt dermaßen, dass die Bezeichnung „Novelle“ längst nicht geeignet ist, den Text zu fassen. Der (Liebes)beweis am Ende ist denn auch selbst Beweis für die Kraft der Literatur.

Der kleine buddhistische Mönch

Der dritte Band der „Bibliothek César Aira“ schließlich wurde erstmals 2005 veröffentlicht und trägt den Titel Der kleine buddhistische Mönch. Ort ist diesmal keine lateinamerikanische Metropole, sondern eine namenlose Stadt in Südkorea. Zentrum ist der besagte buddhistische Mönch, den es nach Europa zieht, den die Regeln seines Ordens aber davon abhalten, denn er muss auf jedweden materiellen Besitz und finanzielles Eigentum verzichten. Eines Tages scheint sich aber sein Traum zu erfüllen, als er einem französischen Ehepaar begegnet, das ihn fast zertritt, so klein und unscheinbar ist der Mönch. Er bietet sich dem Ehepaar als Reisebegleiter an, macht sich durch seine hohe Kenntnis für die beiden nahezu unentbehrlich, die sich jedoch natürlich genötigt fühlen, dem Mönch ihr Missgeschick zu entlohnen.

Der Ehemann ist ein bekannter Fotograf, der sich auf aufwendige Panoramaaufnahmen spezialisiert hat und eigentlich nur die bekannten Sehenswürdigkeiten besuchen und fotografieren wollte. Der Mönch jedoch zeigt dem Ehepaar Orte, die sie nie von selbst entdeckt hätten, weil sie gar nicht in Reiseführern erwähnt werden. Vollauf begeistert von der Gewandtheit ihres winzigen Begleiters, lassen sie sich auf das Abenteuer ein und entdeckten in der Tat faszinierende Orte.

Allmählich jedoch wächst die Beunruhigung, sowohl für das Ehepaar als auch für den Leser der kurzen Novelle: Der kleine Mönch entwickelt Fähigkeiten, die sich wie ein Filter vor das Bild schieben und alles ganz langsam ins Phantastische kippen lassen. Die Auflösung am Ende ist so abrupt wie überraschend. Die Franzosen werden von Botschaftsmitarbeitern festgesetzt und zurückeskortiert. Ihnen wird erklärt, dass der Mönch ein im Grunde fehlgeschlagenes robotisches Experiment der südkoreanischen Regierung sei. Enttäuscht, dass seine Reise nach Europa ein weiteres Mal vereitelt wurde, will dieser auf schnellstem Wege zurück in seine winzige Wohnung, um eine neue, spektakuläre Show im Fernsehen zu sehen, die den Koreanern einen Rundgang durch die weibliche Klitoris präsentieren will.

Der kleine buddhistische Mönch ist ein Text, in dem vor einer subtil phantastischen Kulisse Fragen kultureller Verständigung verhandelt werden. Im Vergleich zu den beiden anderen Büchern ist dieser Text weniger radikal was die formale Konstruktion angeht, auch wenn die Perspektive sehr oft die des Roboters ist. Die Radikalität, wenn man dieses Wort hier gebrauchen möchte, liegt vielmehr in der futuristischen Konfrontation von Mensch und Maschine, in der der Mensch die Maschine nicht mehr als solche erkennen kann. Und doch birgt sich im Maschinellen auch der Kern der Verunsicherung, wenn der kleine buddhistische Mönch eben auch (Konstruktions-)Fehler hat, die den Menschen potenziell gefährlich werden könnten. Trotzdem geht einem die Geschichte des kleinen Mönchs sehr zu Herzen, denn auch er kennt Sehnsucht – eine Sehnsucht jedoch, die ihm vom Algorithmus implantiert wurde. Und hier liegt das zutiefst Menschliche dieser Novelle begründet: dass sich Gefühle vielleicht programmieren lassen. Doch ob diese dann auch echt sind, bleibt eine Frage, die nur der Leser für sich selbst beantworten kann.

Titelbild

César Aira: Der Beweis. Novelle.
Übersetzt aus dem Spanischen von Klaus Laabs.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
94 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957570819

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Titelbild

César Aira: Der kleine buddhistische Mönch. Novelle.
Übersetzt aus dem Spanischen von Klaus Laabs.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
94 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783957570826

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

César Aira: Wie ich Nonne wurde. Roman.
Aus dem argentinischen Spanisch von Klaus Laabs.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783957570802

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