Bilder der Gewalt
Sven Kramer beschäftigt sich in seiner Aufsatzsammlung mit „Transformationen der Gewalt im Film“
Von Benjamin Moldenhauer
Die Masse der Publikationen zum Komplex „filmische Gewalt“ ist inzwischen unüberschaubar geworden. Sie lässt sich grob in zwei, wenn man so will, Genres unterteilen: die Texte, die Inszenierungen von Gewaltakten als symptomatisch verstehen, also als weitgehend unbewussten Ausdruck der gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, in denen sie entstanden sind. Und, auf der anderen Seite, die Texte, die dem Medium Film selbst ein diagnostisches Potenzial zusprechen. Die Filmbilder sollen dem Zuschauer und der Zuschauerin eine modifizierte, im besten Fall analytische Wahrnehmung des Phänomens Gewalt ermöglichen. Grob gilt: Die Autorinnen und Autoren, die das erste Genre bespielen, beschäftigen sich typischerweise mit dem Genrekino; die, die in ihrer Analyse davon ausgehen, dass das Medium selbst einen ernstzunehmenden Diskurs über Gewalt führt, fokussieren tendenziell den Autorenfilm.
Sven Kramers Band Transformationen der Gewalt im Film gehört zum zweiten Genre. Zwar werden mit A History of Violence von David Cronenberg und Atom Egoyans Ararat zwei Filme diskutiert, die sich dem Genrekino zurechnen lassen, allerdings werden beide als reflexive Autorenfilme rezipiert. Der überwiegende Teil der von Kramer behandelten Filme soll sich „von der Konfektionsware aus kulturindustrieller Produktion insofern [unterscheiden], als sie auf der Höhe der Theorien über den Zusammenhang von Bildern und Gewalt agieren“. Die ersten zwei der insgesamt sieben „Lektüren“ fallen in dieser Hinsicht aus dem Rahmen: Kramer beschäftigt sich in den ersten Kapiteln mit dem propagandistischen Charakter von Leni Reifenstahls Triumph des Willens beziehungsweise mit erotisierten filmischen Inszenierungen der Folter und ihrer Kritik durch Jean Améry. In der Hauptsache aber geht es in Transformationen der Gewalt im Film um die Rekonstruktion von filmischen Analysen von Gewalt.
Drei der Kapitel beschäftigen sich mit Regisseuren, die überwiegend Essayfilme gedreht haben: Chris Marker, Alexander Kluge und Harun Farocki. Vor allem anhand von Markers „Level Five“ und Farockis „Aufschub“ diskutiert Kramer die Frage, in welcher Weise die filmische Überlieferung von Gewalt jeweils gestaltet und wie diese Überlieferung durch die Bilder selbstreflexiv verhandelt wird:
Manche Dokumentar- und Spielfilme arbeiten selbstreflexiv, indem sie immanent oder sogar explizit auf das eigene Medium reflektieren. Andere Spielfilme erzählen eine Geschichte und möchten den medialen Diskurs, in dem dies geschieht, vergessen machen. […] Essayfilmen dagegen ist die Reflexion auf das eigene Verfahren eingeschrieben. Wo sie Gewalt thematisieren, sprechen sie zugleich über die Bilder und über die Diskurse der Gewalt.
Dieser selbstreflexive Charakter der Bilder ist es vor allem, der Kramer interessiert. In „Level Five“ beispielsweise spielen vorgeblich dokumentarische Aufnahmen aus der Schlacht um Okinawa eine zentrale Rolle. Die oftmals in Dokumentationen verwendeten Bilder eines brennenden Mannes werden von Laura, der Protagonistin des Films, als Fälschung erkannt: „Er steht wieder auf. Das Ende wurde überall herausgeschnitten“, erklärt Laura dem Zuschauer, ohne Nicht-Authentizität mit Lüge zu verwechseln: „Was für eine Wahrheit? Wahr ist, daß die meisten am Ende nicht wieder aufstanden.“
Auch Kramers Lektüre von Harun Farockis „Aufschub“ kreist um den Komplex Authentizität und Überlieferung. Die in den Bildern des Films gezeigte Gewalt ist die der Deutschen in den Jahren von 1933 bis 1945. Farocki hat Material, das 1942 im Lager Westerbork entstanden ist, mit Zwischentiteln versehen und zu einem filmischen Essay kompiliert, der die Frage, was wir eigentlich wahrnehmen, wenn wir Bilder der Gewalt sehen, in radikaler Weise stellt und, wenngleich auch nicht eindeutig, beantwortet: „Jedes Sehen bringt eine Überblendung mit sich; es gibt kein mit sich selbst identisches Bild.“
Lektüren werden in Transformationen der Gewalt im Film als „Werkanalysen“ verstanden, die „dem Aspekt der Rezeption Rechnung“ tragen. Die nicht nur im Falle des Essayfilms unhintergehbare Interpretationsoffenheit der Bilder thematisiert Kramer, wenn er die eigene Haltung – selten genug im filmwissenschaftlichen Diskurs – offenlegt. Seine Lektüren wollen als politisch verstanden werden, in „Lektüren, die keinem moralischen Impuls folgen, geht es um nichts“. Man kann Kramers Buch auch als Beispiel für eine Reflexion der eigenen interpretatorischen Arbeit lesen, die die Reichweite einer sich über die eigenen Voraussetzungen bewussten Interpretationsarbeit im Blick hat. Dementsprechend geht es hier nicht um objektivierbare Ergebnisse, die in einem streng wissenschaftlichen Sinne bewiesen werden könnten. Es geht um Plausibilität. Und Kramer argumentiert so eng und kenntnisreich an den Bildern und der Inszenierungsweise des jeweiligen Films, dass man ihm auch dann noch gerne folgt, wenn die eigene Filmwahrnehmung von der vorgeschlagenen Lektüre abweicht.
Transformationen der Gewalt im Film ist nicht nur ein äußerst lesenswerter Beitrag zum Komplex Gewalt und Film. Der Band ist darüber hinaus ein Beispiel für eine fundierte interpretatorische Arbeit, die die Filmwahrnehmung von Leserin und Leser schärfen und bereichern kann. Und Blickschärfung, nicht die Formulierung von der Weisheit letzten Schlüssen, ist das schönste Ergebnis von filmtheoretischer Arbeit.
![]() | ||
|
||
![]() |