Literatur und Recht
Vorbemerkungen zu einem Themenschwerpunkt in der Juli- und August-Ausgabe
Von Jürgen Joachimsthaler
Literatur und Recht erscheinen häufig als Gegensatz – hier der Bereich freier, potenziell unendlicher Phantasie, evoziert in kunstvoll mitreißender Sprache, dort Gesetze, die regeln und normieren und schon allein durch ihren fachlichen Duktus als sinnlichkeits- und lebensfeindlich erfahren werden können. Nicht selten geraten sie in Konflikt miteinander, sieht sich Literatur rechtlicher Verfolgung, die Justiz aber ihrerseits auch literarischer Satire und Kritik ausgesetzt. Letztere wird oft vorgebracht von literarisch tätigen Juristen selbst, für die sich die Bezeichnung „Dichterjuristen“ eingebürgert hat. Deren Doppelspiel auf beiden Seiten des scheinbaren Gegensatzes ist kein Zufall: Das immer wieder neu und öffentlichkeitswirksam inszenierte Gegeneinander von Recht und Literatur ist Ergebnis einer strukturell notwendigen Arbeitsteilung zwischen zwei zutiefst ineinander verschränkten Kulturbereichen, deren stete Auseinandersetzung beide mitgestaltet. Sie brauchen einander.
In zentralen Texten früher Hochkulturen – man denke nur an die Tora bzw. den Pentateuch – sind literarische, juristische und religiöse Dimension noch nicht voneinander getrennt: Die mythische Narration erzählt den Weg der Gesetze von Gott zu den Menschen und beansprucht Gültigkeit für sie, indem sie sie erzählt. Literatur fungiert hier zugleich als gesetzgeberische Proklamation. Auch wenn sich Literatur und Recht mittlerweile längst auseinander differenziert haben: Sie sind gemeinsamen Ursprungs, beruhen beide auf Sprache und evozieren beide dort, im Bereich der Worte, real nicht Vorhandenes. Auch Gesetze beschreiben ja nichts, sie proklamieren, was sein soll. Literatur und Recht arbeiten – in unterschiedlicher Weise – beide mit Fiktion.
Fictio juris, die juristische Fiktion (nicht selten hervorgegangen aus literarischer Imagination), besitzt freilich die Macht, ihre Sätze und Setzungen als gültig durchzusetzen. Die Gesellschaft hat sich ihnen anzupassen (was freilich nicht immer vollumfänglich geschieht). Der Literatur fehlt solche Macht, oft will sie eine solche auch gar nicht und überlässt sie bewusst der Justiz, um sich von dieser und ihrer so gern verspotteten scheinbaren Beschränktheit besser abheben zu können. Doch ist der Freiraum der Phantasie, den Literatur dann für sich beansprucht, selbst nur möglich durch juristische Rahmung wie das Urheberrecht, die Meinungsfreiheit und vor allem die im Grundgesetz verbürgte Freiheit der Kunst.
Dieses komplexe Ineinander ist Grund genug, dem „und“ zwischen Literatur und Recht, der Verbindung zwischen ihnen in einem eigenen Schwerpunkt nachzugehen. Wie fruchtbar das Thema ist, zeigt sich an der großen Zahl dazu eingegangener Beiträge. Diese drohen den üblichen Umfang eines Schwerpunktes von literaturkritik.de zu sprengen. Wir haben uns deshalb dazu entschieden, das Thema aufzusplitten in zwei miteinander korrespondierende Teile. Die Beiträge der Juli-Ausgabe gehen darauf ein, wie Literatur und Medien sich gegenüber den Schranken des Gesetzes und zuweilen auch Zensurmächten anderer Art zu behaupten haben. In der August-Ausgabe wird dann umgekehrt der Blick darauf gelenkt, wie Literatur ihrerseits mit dem Rechtsbereich umgeht, ihn nutzt als Stoff und Anregung. Der erste Teil des Schwerpunkts wird so eher die Konflikte zwischen Recht und Literatur hervorheben, der zweite eher ihre Kooperation und wechselseitige Durchdringung.