Wie man nicht zum „Gegenmenschen“ wird

Peter Steinbach zieht in einem grundlegenden Essay Bilanz über die Beschäftigung der Deutschen mit dem Holocaust

Von Julian KöckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Köck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 22. Oktober 1940 bekam das Regime den Beweis, auf den es schon länger spekuliert hatte: Ungefähr 6500 Juden aus Baden und der Pfalz wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben und deportiert. Das deutsche Volk nahm die Entrechtung seiner jüdischen und jüdisch-stämmigen Mitbürger klaglos hin. Der Staat wurde zum Räuber, die Bürger nicht selten zu Hehlern, die nur allzu begierig den Besitz der Vertriebenen an sich zu bringen suchten. Von nun an konnte für die Nationalsozialisten kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie ihr Vorhaben – die Vertreibung und Ermordung erst der deutschen und dann der europäischen Juden – ohne Widerstände aus der Bevölkerung würden umsetzen können.

Zurecht betont Peter Steinbach in seinem Buch „Nach Auschwitz. Die Konfrontation der Deutschen mit der Judenvernichtung“ dieses Ereignis, das in der öffentlichen Wahrnehmung kaum beachtet wird, während die Lager Auschwitz, Birkenau und – schon weniger – die Todesfabrik Treblinka für den Holocaust stehen. Steinbach betont das Ereignis, weil er nach Antworten sucht, die über die Chronik des Geschehens hinausgehen. Die Genese des Antisemitismus, seine Verbreitung in der Bevölkerung, die Rolle des Nationalismus, die Bedeutung von Wirtschaftskrise und echten oder vermeintlichen Verwerfungen der Moderne, all das sind gut erforschte Themen, doch die hermeneutische Distanz bleibt bestehen: Wie konnte das geschehen? Wie konnte so ruhig und kontrolliert ein Teil des Volkes ausgemerzt werden? Und was bedeutet das für die conditio humana?

Eine nüchterne, endgültige Antwort auf diese Frage kann die Geschichtswissenschaft nicht liefern. Die Frage berührt das, was wir Humanität nennen, im Kern. Es waren nicht die Massen der Schutzstaffel-Männer, die das deutsche Volk unter Androhung von Waffengewalt in Schach hielten – das Volk hielt sich selbst in Schach. Die Geschichte des Holocaust ist nicht ohne die Geschichte der „Selbstgleichschaltung“, so nennt es Steinbach, der Deutschen zu schreiben. Die Bedeutung von Gedenkstätten liegt darum nicht nur darin, an das Leid der Opfer und die Verbrechen der Täter zu erinnern. Vielmehr sollen sie uns auch an die Apathie erinnern, die den Verbrechen und damit den Verbrechern entgegengebracht wurde.

Und die auch heute noch den Verbrechen entgegengebracht wird, über die wir uns tagtäglich durch die Medien belehren lassen können. Weit davon entfernt, den Holocaust relativieren zu wollen, tritt Peter Steinbach in seinem Essay dafür ein, ein „integrales Gedenken“ zu üben, „das alle Opfer und deren ganz persönliche Leiderfahrungen in den Blick nehmen sollte“. Nur ein umfassendes und deswegen immer auch potenziell kontroverses Gedenken wird dem gerecht, um was es eigentlich geht. Es geht nicht darum, eine Zivilreligion zu stiften und kultisch „Kranzabwurfstellen“ zu festen Terminen zu besuchen, sondern darum, der Gesellschaft und sich selbst einen Stachel ins Fleisch zu treiben, das nur allzu oft schwach ist: Apathie, Selbstgerechtigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber Leiden sind auch heute noch allgegenwärtig. Sich selbst den Weg in diese Apathie zu verstellen, human zu denken und seinen Mitmenschen kein „Gegenmensch“ (Steinbach) zu werden, das ist es, worum es geht.  

Peter Steinbach hat ein fulminantes Essay vorgelegt, dem eine breite Rezeption zu wünschen ist. Bedauerlich ist lediglich, dass Steinbach, der Lehrstühle für Politik- und Geschichtswissenschaft gleichermaßen innehatte und umfangreiche praktische Erfahrungen im Bereich der Gedenkenskultur hat, nicht mehr über seine eigenen Erlebnisse berichtet. Es steht zu hoffen, dass er dies an anderer Stelle nachholen wird.

Titelbild

Peter Steinbach: Nach Auschwitz. Die Konfrontation der Deutschen mit der Judenvernichtung.
Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2015.
107 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783801204624

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