Viele Partikel ergeben ein Ganzes
In ihrer zweiten „Poet“-Vorlesung betrachtet Marion Poschmann ‚Zeit’ und ‚Handlung’ – und schaltet in den „Survivalmodus“
Von Mario Bartlewski und Carina Geyer
„Es gibt kein übergeordnetes System, nur einzelne Partikel, die sich zusammenfügen“, sagt Marion Poschmann am Ende ihrer Poetikvorlesung zum Thema Zeit und Handlung: Survivalmodus. Was die Autorin hier auf die Auslegung des modernen Romans bezieht, lässt sich auch allgemein auf ihren zweiten Vortrag im Rahmen der Poet in Residence-Dozentur anwenden. Wie häufig in ihren Texten arbeitet die Essenerin mit Gedankenpartikeln, mit essayistischen Splittern, die dem Publikum unter Ein-Wort-Überschriften wie „Gattungsgrenzen“, „Schlafen“ oder „Leerlauf“ portionsweise verabreicht werden. In mundgerecht konsumierbaren, aber dennoch gehaltvollen Häppchen serviert Poschmann so ihr Poetikverständnis.
An den Anfang der Vorlesung stellt die Autorin Fragen, die das Publikum oft an sie richtet – und die sie selbst ungern beantwortet: Wo verläuft die Gattungsgrenze zwischen Lyrik und Prosa? Wie setzen sich beide voneinander ab? Für eine Autorin, die sich in beiden Genres heimisch fühlt und oftmals Verbindungen zwischen ihnen schafft, scheint die Kunst der Überschreitung – so lautet auch der Obertitel der Vorlesungsreihe – im Vordergrund zu stehen. Dennoch wagt sie den Versuch den Roman formal einzukreisen.
Während die Lyrik Atmosphäre trage, erzähle der Roman Geschichten; Geschichten mit einer Handlung, in der Zeitaspekte stecken: Tempo, Zeitraum, Leerstellen, der lineare Lauf des Lebens. Von der Gattungsunterscheidung springt Poschmann zur historischen Genese des Romans. Das mittelalterliche Versepos findet ebenso Beachtung wie der moderne Bewusstseinsroman. Dabei verbleibt Poschmann nicht in der reinen Theorie, sondern reichert diese immer wieder mit persönlichen Einschüben oder Geschichten an. Die Heldenreise verknüpft sie mit Fußballregeln, theoretische Abhandlungen mit Einblicken in ihre eigene Schreibpraxis.
Dazu passt auch ihr Vortragsstil. Mit sanfter Stimme liest sie die Texte - Lyrik oder Prosa. Auch die von ihr gewählte Bildsprache sorgt für eine poetische Atmosphäre während der Vorlesung. Ein abstrakter Begriff wie ‚Zeitverlauf’ wird mit einem knitternden Duschvorhang illustriert – fast fühlt man sich in einen ihrer Romane versetzt und muss Acht geben, sich nicht in Poschmanns dichterischer Welt zu verlieren.
Gekonnt bricht sie diese Atmosphäre durch Einschübe, die auf den ersten Blick nicht in das Bild einer Poetikvorlesung passen und irritieren. Ausgehend von der skurril-tragischen Figurenkonstellation in ihrem Roman Die Sonnenposition, stellt Poschmann die These auf, dass Handlung eine Form des Überlebens sei – und zieht plötzlich eine kleine Metalldose hervor. Dies sei ihre Überlebensbox, die sie als Jugendliche immer bei sich getragen habe, um jederzeit aufbrechen zu können: immer im Survivalmodus, ausgestattet mit allem, was man zum Überleben in der Natur braucht. Poschmann führt die Trillerpfeife für Notsignale vor, zieht Draht, Aktivkohle und Streichhölzer aus der kleinen Dose und erläutert ihren Nutzen. Sie entfaltet einen blauen Müllsack: Den könne man als Zelt, Regenponcho oder Unterlage verwenden. In diesem Moment lässt Poschmann das vorbereitete Skript hinter sich, spricht frei, so dass sich die nostalgische Freude unweigerlich aufs Publikum überträgt.
Als sie wieder zur Literatur zurückkehrt, benutzt sie den Begriff ‚Survivalmodus’, um metaphernreich über das Autorendasein zu erzählen. Auch als Autorin müsse sie sich stets Herausforderungen stellen, die dem Überleben in der Wildnis ähneln: Wortmaterial fände man überall – und oft bräuchte man eine Initialzündung um Feuer machen. Aus Reibung und Konzentration entstehe Energie.
Assoziativ schlägt Poschmann den Bogen zu ihrer „Traumlogik“. Um Inspiration, Charaktere und Plots zu finden, müsse man raffinierte Methoden anwenden. Eine davon sei das Schlafen. Im Traum sei ihr die Handlung ihrer Hundenovelle begegnet und hätte sie nicht mehr losgelassen. Um diese dann aber in Prosa fassen zu können, musste sie literarisch domestiziert werden: Die Autorin hospitierte im Hundesalon, las Tierratgeber und kam schließlich mit Albrecht Dürers Melancholia I und dem unheilbringenden Stern Sirius im Canis Major auf den Hund.
Insgesamt entlässt Poschmann den Zuhörer mit einem vagen Eindruck von vielen Facetten ihrer Arbeit. Zwischen Theorie, eigenem künstlerischen Schaffen und persönlichen Geschichten scheint vieles nur lose verbunden. Die rhapsodische Grundanlage geht zwangläufig mit einer Zerstückelung der gedanklichen Sukzession des Vortrags einher; es drängt sich die Frage auf, ob sich die Autorin mit dieser Disposition nicht selbst um Kohärenz bringt, und so der Eindruck von Fragmenten und Brüchen – statt von ‚Überschreitungen’ – zurückbleibt. Sobald aber dieses rigide dispositionelle Korsett hinter den poetischen Arbeiten der Autorin zurücktritt, wird es spannend.
Die Fotografien von Steinen und Steinformationen, mit denen Marion Poschmann an drei Veranstaltungstagen ihre Vorträge beschließt, sind dieses Mal chinesische Gelehrtensteine. Poschmann erklärt anhand von Photographien den Mythos und die Funktion der Steine, die die Macht der Natur darstellen und die des Geistes unterstützen sollen. Von Wind und Wasser geformt, regen die schroffen Felsstücke zur Reflexion an und erinnern den Menschen an seinen Platz in der Welt. Wie die Textpartikel werden diese Steine ins Gesamtbild der Vorlesung eingepasst. Den Mörtel muss der Zuhörer selbst ergänzen.
Von Mario Bartlewski, Carina Geyer, Dagmar Kabala, Lena Mattheis, Ann-Christine Reeh und Minou Trieschmann.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen