Eine intellektuelle Hexenküche

Die Jubiläumsausgabe des „Werkblatts“ enthüllt die subversive Kraft der Psychoanalyse und ein spannendes Stück Zeitschriftengeschichte

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

30 Jahre „Werkblatt“! Bunt und lustig leuchtet die Jubiläumsausgabe der bekannten Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik dem Leser entgegen. Dutzende farbenfrohe frühere Ausgaben – das Ergebnis 60-facher Buchproduktion – sind auf dem Einband abgebildet, locker und lässig, unbekümmert um Ordnung und Hierarchie drapiert. Bemerkenswert ist auch der Inhalt dieser Ausgabe: Sie ist ein Jubiläumsgeschenk der Abonnentinnen und Abonnenten, in dem diese in mehr als vierzig Berichten, Skizzen, Essays und Artikeln ihre Begeisterung für die Psychoanalyse, ihre Freude am Werkblatt bekunden. Auch hier ohne feste Reihenfolge, sondern lediglich in Kilometerangaben gemessen – der geografischen Entfernung der Beitragenden zu Salzburg, Geburtsstätte und Produktionsort dieses im besten Sinne außergewöhnlichen Zeitschriftenprojektes.

Eine Zeitschrift voll sprudelnder Energie, welche die ewige Jugend gepachtet zu haben scheint – auch wenn ihr Herausgeber Karl Fallend daran erinnert, dass die Studenten von damals jetzt „Post von der Pensionsversicherungsanstalt“ bekommen. Lust, Freude, Kraft und Dynamik schießen aus jeder Ausgabe des Werkblatts hervor, doch wie kommt es, dass sie nie versiegen? Seine Energie hat das Werkblatt immer aus dem Widerspruch, aus dem Widerstand geschöpft. Obwohl es an einer Universität (1984 an der Uni Salzburg) entstanden ist, sah sich das Werkblatt vom Anfang an als eine „Gegen-Universität“, die den fest eingefahrenen Wegen der Wissenschaft entkommen wollte, um „andere, oft anstrengendere, unbequemere, ‚wilde‘ Wege zu versuchen“, wie schon Werner Kienreich im damaligen ersten Editorial schrieb. In der stets brodelnden Küche, in der Siedehitze des Werkblatts wurden intellektueller Austausch, Diskussion und vor allem Subversion immer groß geschrieben, Anpassung und Dogmatismus dagegen heftigst bekämpft. „Carusos Erben“, wie sich die damaligen Studenten des Psychoanalytikers Igor Caruso stolz nannten, experimentierten, kämpften, rebellierten. Rastlose Querdenker, die nicht nur die gesellschaftliche Entwicklung, sondern auch die Medizinalisierung und Domestizierung der Psychoanalyse mit Argusaugen verfolgten, gnadenlos durchleuchteten und vom universitären Abseits aus, von „jenseits der Couch“ ihre Angriffe auf den Geist des Konformismus, auf den Ungeist ihrer Zeit starteten.

Auch die Jubiläumsausgabe atmet diesen Geist. Zugegeben: Mit ihrer kaleidoskopischen Themenvielfalt, mit ihrem „breiten Panorama psychoanalytischen Denkens“ präsentiert sie sich als ein „psychoanalytisches Lesebuch“, wie die Herausgeber Albert Ellensohn und Karl Fallend in ihrem Vorwort erklären. Und doch verleitet dieses Lesebuch zu keinen ruhigen Mußestunden. Zwar ist sein Unterhaltungswert ebenfalls erheblich, mangelt es ihm weder an Humor noch an ästhetischen An- und Ausblicken – etwa auf das Grand-Hotel „Maloja Palace“ am Silser See oder auf das Hotel „Schweizerhaus“ in Maloja im Beitrag von Klemens Renoldner „Dr. Freud mit Frau in Maloja. Ein Bericht aus dem Oberengadin“. Aber bereits dieser Artikel führt uns nicht auf eine Bilderbuch-Reise ins Engadin, sondern liest die offizielle psychoanalytische Geschichtsschreibung gegen den Strich, indem er sich der brisanten Frage nach Sigmund Freuds Aufenthalt mit seiner Schwägerin Minna Bernays an diesem Ort im Jahre 1898 annimmt. Ebenso ungewöhnlich und unerschrocken ist der Auftakt der vorliegenden Jubiläumsausgabe, wo Bernhard Handlbauer schon im Titel die Frage stellt: „Warum John F. Kennedy starb und warum es eine Rolle spielt“. Eine weitere unruhige Frage: „Wer kennt Knicanin?“ leitet den Aufsatz von Dorothea Steinlechner-Oberläuter über das 1945 für die Internierung von Volksdeutschen in der serbischen Vojvodina errichtete Lager Rudolfsgnad ein.

Kritik ist im Werkblatt auf zahlreichen Ebenen zu finden – in der Jubiläumsausgabe etwa als Kritik an der Akademisierung der psychoanalytischen Ausbildung wie im Beitrag von Fritz Lackinger oder als Kritik an der „kalkulierenden“ und „auf Zeitökonomie bedachten Rationalität“ der heutigen Universitäten mit ihren „von Arbeitsüberlastung, Drittmittelorientierung und Konkurrenzverhältnissen durchzogenen“ Strukturen wie im Beitrag von Markus Brunner, Julia König, Jan Lohl, Nora Ruck, Marc Schwietring und Sebastian Winter. In bester psychoanalytischer Tradition nähert man sich dem gesellschaftlichen Elend vom Seelenende, von den Mauern im Kopf her. Aber auch die eigenen psychoanalytischen Schwächen und blinden Flecken bleiben von der Kritik nicht verschont. So unternimmt der Berliner Psychoanalytiker Andreas Peglau energisch „Aufräumarbeiten“ in der psychoanalytischen Begriffsbildung und unterzieht Freuds Begriff der „Urszene“ einer kritischen Überprüfung. Eine Gegengeschichte zur orthodoxen psychoanalytischen Historiografie bieten Gudrun Wolfgrubers Text „Bertha Pappenheim und Anna O. Von der Psychoanalyse zur Gesellschaftskritik“ sowie Karl Fallends „Mimi und Els“ – eine faszinierende Darstellung der schillernden Vorkämpferinnen der kritischen Psychoanalyse Marie Langer und Else Pappenheim.

Kultur und Kulturgeschichte erweisen sich wieder einmal als ein fruchtbarer Nährboden und ein dankbares Objekt für die kritische Psychoanalyse. Während Rainer Danzinger in seinem Aufsatz „Des Meeres und der Liebe Wellen“ die Möglichkeiten der Psychoanalyse, zu einer Kulturgeschichte des Wassers beizutragen, überzeugend demonstriert, richtet Kristina Pia Hofer ihre Polemik gegen das Exploitationskino. In seiner scharfsinnigen Auseinandersetzung mit dem Heimatfilm zeigt Bernd Nitzschke am Beispiel des Films „Der plötzliche Reichtum der armen Leute von Kombach“ von Volker Schlöndorf das Potential des kritischen Heimatfilms als Kontrafaktur zum traditionellen Heimatfilm auf. Geschichte, Psychoanalyse und Kultur verschmelzen in Nitzschkes Aufsatz und kulminieren in der brennenden Frage: „Wie kann es sein, dass die Knechte für die Aufrechterhaltung ihrer Knechtschaft sorgen?“ Oder mit Sigmund Freud gesprochen: „aller innerer Zwang [war] ursprünglich, d.h. in der Menschheitsgeschichte nur äußerer Zwang.“ Psychoanalyse vom Feinsten – als kritisches Instrument, als Skalpell am Nerv der Zeit, am Schnittpunkt zwischen Disziplinen und Diskursen, zur Erschütterung von Normen und Konventionen.

„Falsche Fuffziger“ nennt Dave J. Karloff die 50-Schilling-Scheine, die 1987 in Österreich mit dem Konterfei Sigmund Freuds emittiert wurden. Falsch, weil jegliche Anpassung an den Kapitalismus, jegliche Verkümmerung der Psychoanalyse zum „Fisch im Wasser der spätkapitalistischen Geldgesellschaft“ einen Verrat an ihrem tiefsten, wahren Wesen darstellt. Gegen die Einschränkung der Psychoanalyse, gegen ihre „konformistische Erosion“ und für den Erhalt ihres kulturrevolutionären Impetus, für den „Stachel Freud“, unterbreitet Helmut Dahmer in der vorliegenden Jubiläumsausgabe des Werkblatts ein breit angelegtes Programm zur Restitution der kritischen Psychoanalyse. Dessen Höhepunkt: die Vision eines sozialkritischen Instituts für Psychoanalyse, mit geschichtswissenschaftlichen, soziologischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Schwerpunkten und politischen Funktionen, um den „monströsen Sphingen, deren Rätsel wir noch keineswegs gelöst haben“, die Stirn zu bieten.

Den Grundstein zu einem solchen Projekt hat schon das Werkblatt gelegt und in dreißig Jahren ein wichtiges Stück dieses Weges vorgelebt, wie auch die Jubiläumsausgabe beweist: immer mit dem Gestus des Suchenden, Fragenden, Kämpfenden (siehe hierzu den Beitrag von Christian Schacht) – vor allem dort „wo der Boden schwankend und das Wasser beunruhigend tief ist (und bleibt).“

Werkblatt Nr.73, Heft 2/31. Jg. 2014

340 S., 16,00 EUR

ISSN 0257-3601