Wiedergeboren in einer Zweitsprache

Übersetzt von Alina Timofte

Von Costica BradatanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Costica Bradatan

In ihrer Erkundung der katholischen Religion, in „Briefe an einen Ordensmann“, geschrieben ein Jahr vor ihrem Tod 1943, bemerkte Simone Weil an einer Stelle, „ein Wechsel der Religion ist für jeden eine genauso gefährliche Angelegenheit wie der Wechsel der Sprache für einen Schriftsteller. Er kann sich als Erfolg erweisen, aber er kann auch fatale Folgen haben.“ Der rumänische Philosoph Emil Cioran, der ein solcher Schriftsteller war, spricht vom Wechsel der Sprache als einem katastrophischen Ereignis in der Biographie eines jeden Autors. Und dies wohl zurecht.

Wenn man Schriftsteller wird, geschieht dies nicht auf eine abstrakte Weise, sondern in Relation zu einer bestimmten Sprache. Das Schreiben in einer Sprache zu praktizieren heißt zugleich Wurzeln zu schlagen in jener Sprache; je besser der gewordene Schriftsteller ist, desto tiefer die Verwurzelung. Literarische Virtuosität verrät fast immer eine Art tiefes, komfortables Eintauchen in einen vertrauten Boden. So gesehen ist für den Schriftsteller, der die Sprache wechseln muss, diese Erfahrung nichts weniger als lebensbedrohend. Nicht nur muss man alles ganz von vorne anfangen, vielmehr muss man auch alles, was man bislang getan hat, rückgängig machen. Sprachen wechseln ist nichts für den Kleinmutigen und nichts für den Ungeduldigen.

So schmerzhaft diese Erfahrung auf einer strikt menschlichen Ebene sein mag, so faszinierend kann sie aus philosophischer Sicht sein. Selten bekommen wir die Möglichkeit, eine dramatischere Wiederherstellung der eigenen Person zu beobachten. Denn die Sprache eines Schriftstellers, weit davon entfernt bloß ein Mittel des Ausdrucks zu sein, ist vor allen Dingen ein Modus subjektiver Existenz und eine Welterfahrungsweise. Er/Sie braucht die Sprache, nicht bloß, um die Dinge zu beschreiben, sondern um sie zu sehen. Die Welt entlarvt sich in einer bestimmten Weise dem japanischen Schriftsteller und in einer anderen Weise demjenigen, der auf Finnisch schreibt. Die Sprache des Schriftstellers ist nicht nur etwas, von dem er/sie Gebrauch macht, sondern ein konstitutiver Teil dessen, was er/sie ist. Deswegen heißt das Aufgeben der eigenen Muttersprache und das Aufnehmen einer anderen, sich selbst auseinander zu nehmen, Stück für Stück, und sich selbst dann wieder zusammenzusetzen, in einer anderen Form.

Zuerst einmal sinkt man beim Wechsel der Sprache auf einen Nullpunkt der eigenen Existenz. Es mag sogar einen Augenblick geben, wenngleich nur einen kurzen, in dem man aufhört zu sein. Man hat die alte Sprache gerade verlassen und die neue hat einen noch nicht aufgenommen. Man befindet sich in der Schwebe, zwischen den Welten, hängend über dem Abgrund. Ein Wechsel der Sprache geschieht in der Regel, wenn der Schriftsteller entweder im erzwungenen oder im selbst gewählten Exil lebt. Doch das physische Exil wird in solchen Fällen von einem ontologischen gedoppelt – ein Exil an den Rändern des Seins. Es ist, als ob das Selbst des Schriftstellers beim Durchgehen der Leere – dieses schmalen Spaltes zwischen den Sprachen, wo es keine Worte gibt, an denen man sich festhalten und wo nichts benannt werden kann – für einen Augenblick aufhören würde zu existieren. Simone Weils Vergleich mit dem Akt der Bekehrung ist in der Tat treffend, denn genauso wie im Fall des Konvertiten erlebt auch der sprachenwechselnde Schriftsteller eine Tod-und-Wiedergeburt-Erfahrung. In bedeutungsvoller Weise stirbt diese Person und kommt dann zurück als eine andere. „Als ich meine Sprache gewechselt habe, habe ich meine Vergangenheit vernichtet. Ich habe mein ganzes Leben verändert“, sagt Cioran.

Wenn man in der neuen Sprache zu schreiben beginnt, ist die Welt für den Schriftsteller aufs Neue geboren. Doch die spektakulärste Wiedergeburt ist die eigene. Denn das ist ein Projekt der Gesamtrekonstruktion des Selbst, wo alle Hebel in Bewegung gesetzt werden und nichts wie vorher aussehen wird. Die eigene Muttersprache – das, was man früher war – erscheint immer weniger vertraut. Aber das stört nicht weiter; in der Tat ist es sogar so, dass man an den Punkt gelangt, an dem man sie einfach als eine weitere Fremdsprache verwendet. Nicht lange nach der Annahme der französischen Sprache klagte Samuel Beckett, ein Ire, über sein muttersprachliches Englisch: „Schreckliche Sprache, die ich noch zu gut kann.“ Das ontologische Versprechen der kompletten Erneuerung, die mit dem Wechsel in die neue Sprache einhergeht, ist nichts weniger als berauschend.

Wenn man auf diese Weise wiedergeboren wird, ist es, als ob einem alle Möglichkeiten offen stünden; man bekommt eine Chance, sich selbst neu zu gestalten, und zwar in welcher selbst gewählten, neuen Form auch immer. Man ist sein eigener Demiurg: als könnte man aus dem Nichts alles werden. Als er 1954 gefragt wurde, warum er die Sprache gewechselt habe, antwortete Beckett: aus dem „Bedürfnis, schlecht ausgerüstet zu sein“. Seine Antwort ist besonders schlau, weil sein überheblicher Ton, wenn man genauer hinhört, betäubend ist. Denn im Französischen klingt das Bedürfnis, „schlecht ausgerüstet zu sein“ (d’être mal armé), ähnlich wie das Bedürfnis, (ein anderer) Mallarmé zu sein (d‘être Mallarmé). Alles andere als der Status eines Mallarmé wäre jedoch nicht genug für einen Beckett auf der Suche nach dem neuen Selbst. Schließlich wurde er kein zweiter Mallarmé, aber Samuel Beckett, der Autor von „Molloy“, „Malone stirbt“ oder „Warten auf Godot“, was wahrscheinlich genauso gut ist. Und als ob nicht schon genug Entfremdung in seiner Annahme einer neuen Sprache gesteckt hätte, entfremdete er sich ein weiteres Mal, indem er sein französisches Werk ins Englische übersetzte. An einer anderen Stelle behauptete Beckett, dass er die französische Sprache bevorzuge, weil sie ihm erlaube, „ohne Stil“ zu schreiben. Doch das Schreiben „ohne Stil“ ist einer der am schwierigsten zu pflegenden Schreibstile überhaupt; man muss gut ausgerüstet sein, um es zu tun.

Es liegt etwas „Natürliches“ darin, wenn man ein Schriftsteller in der eigenen Muttersprache wird. Selbstbewusstsein in dieser Sprache erreicht zu haben, sie sozusagen gleich mit der Muttermilch aufgenommen zu haben, ein solcher Schriftsteller befindet sich in einer etwas privilegierten Position: er muss das, was er erhalten hat, zur Perfektion bringen. Zugegeben: hartes Training, Selbstdisziplin und ständiges Üben sind notwendig; schließlich ist Kunst das Gegenteil der Natur. Doch egal, wie man es betrachtet – es gibt eine distinkte Art von Kontinuität und ein organisches Wachstum im Entwicklungsverlauf dieses Schriftstellers.

Aber Schriftsteller in einer Sprache zu werden, die nicht von Geburt an dir gehört, geht gegen die Natur; es gibt nichts Organisches in diesem Prozess, nur Kunstgriffe. Es gibt keine sprachlichen „Instinkte“, die einen auf den richtigen Pfad führen, und die Schutzengel der Sprache flüstern einem nur selten ins Ohr; man ist auf sich allein gestellt. Cioran sagt: „Als ich auf Rumänisch schrieb, waren meine Worte nicht unabhängig von mir. Sobald ich auf Französisch zu schreiben begann, wählte ich jedes einzelne Wort bewusst aus. Ich hatte sie vor mir, außerhalb von mir, jedes an seinem Platz. Und ich wählte sie: jetzt nehme ich dich, und dann dich.“

Viele, die ihr Schreiben in eine zweite Sprache verlagern, entwickeln ein ungewöhnlich scharfes Sprachbewusstsein. In einem Interview, das er 1979 gab, also etwa sieben Jahre nachdem er aus seiner Heimat Russland in die USA gezogen war, spricht Joseph Brodsky von seiner laufenden „Liebesaffäre mit der englischen Sprache“. Die Sprache ist für diese Menschen eine derart überwältigende Präsenz, dass sie imstande ist, ihre neuen Biographien zu strukturieren. „Englisch ist die einzig interessante Sache, die in meinem Leben übriggeblieben ist“, sagt Brodsky. Das Bedürfnis, das richtige Wort zu finden, beginnt als Sorge, verwandelt sich in eine Obsession und endet als Lebensweise. Diese Schriftsteller brillieren in der Kunst, aus der Not eine Tugend zu machen: aus der Notwendigkeit heraus zu verstehen, wie die neue Sprache funktioniert, verwandeln sie sich in Sprachfanatiker; aus der Sorge um Richtigkeit werden sie zu zwanghaften Grammatikern.

Als er im Alter von sechsundzwanzig nach Frankreich zog, waren Ciorans Französischkenntnisse kaum annehmbar, trotzdem endete er als einer der größten Stilisten dieser Sprache. Ebenso Joseph Conrad, der relativ spät im Leben die englische Sprache erlernte, was ihn aber nicht daran hinderte, einer ihrer meisterhaftesten Vertreter zu werden. Vladimir Nabokov ist zweifellos ein weiterer solcher Vertreter, obwohl er schon im frühen Alter mit dem Englischlernen begonnen hat. Das gleiche Muster immer wieder: alles aus dem Nichts, von zögernder Unwissenheit zu einer Ausdrucksweise erster Ordnung.

Gegen Ende von Ray Bradburys Roman „Fahrenheit 451“ begegnet dem Leser etwas, dessen Bedeutung über den Rahmen der Geschichte hinausgeht. Es ist die Szene, in der Montague[1] die „Buchmenschen“ trifft. In einer Welt, in der gedruckte Texte verboten sind, haben diese Menschen ihr Leben der Erhaltung der „großartigen Bücher“ der Menschheit gewidmet; jeder prägt sich ein Buch ins Gedächtnis ein und verbringt sein ganzes Leben damit, es zu rezitieren. Sie sind lebende Texte, diese Menschen, fleischgewordene Sprache. Neben den Meisterwerken, die sie bewohnen, bedeuten sie nicht viel. Ihre Körper bedeuten so wenig wie das Papier, auf dem ein Buch gedruckt wird. In gewisser Weise unterscheidet sich ein Schriftsteller, der die Sprache gewechselt hat, nicht sehr von diesen Menschen. Auf lange Sicht findet aufgrund ihrer zwanghaften Beschäftigung mit der sprachlichen Präzision und mit der stilistischen Perfektion eine Art Kolonisierung statt: Die Sprache durchdringt alle Details im Leben eines Schriftstellers, prägt es und formt es um, verkündet ihre Herrschaft über ihn – sie übernimmt die Führung. Das Selbst des Schriftstellers wird nun von einer Invasionsmacht besetzt: vom eigenen Schreiben in einer neuen Sprache.

In einem gewissen Sinne könnte man sagen, dass man am Ende nicht die Sprachen ändert, sondern dass man von den Sprachen geändert wird. Auf einer tieferen, persönlicheren Ebene hat das literarische Schreiben in einer anderen Sprache eine deutlich performative Dimension: indem man schreibt, passiert etwas mit dem Schreibenden, die Sprache bemächtigt sich seiner. Das Buch, das er schreibt, schreibt letztendlich ihn. Die Folge daraus ist eine Art „Vergeistigung“ („ghostification“). Denn als Schriftsteller eine Sprache zu wechseln heißt, sich einem Prozess der Entmaterialisierung zu unterziehen: Bevor man es merkt, ist man mehr Sprache als alles andere. Eines Tages überkommt einen plötzlich eine gewisse Intuition, nämlich dass man nicht mehr primär aus Fleisch und Blut besteht, sondern vielmehr aus Zeilen und Reimen, aus rhetorischen Strategien und narrativen Mustern. Genau wie die „Buchmenschen“ bedeutet man nicht viel abseits der Texte, die einen bewohnen. Mehr als ein Mann oder eine Frau aus Fleisch und Blut ist man jetzt eher die Fleischwerdung aus der Sprache selbst, ein literarisches Projekt, sehr ähnlich den Büchern, die man selbst schreibt. Der Schriftsteller, der die Sprache gewechselt hat, ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Ghostwriter – im Grunde der einzige, der diesen Namen verdient.

Nachdem dies alles getan, nachdem er durch den Schmerz des Sprachenwechsels gegangen ist und die Tod-und-Wiedergeburt-Initiation durchlaufen hat, wird dem sprachwechselnden Schriftsteller – als Belohnung sozusagen – der Zugang gewährt zu einer metaphysischen Einsicht in eine seltsame, wilde Schönheit. Es ist der Gedanke, dass die Welt nichts anderes sein kann als eine Geschichte im Entstehen, und dass wir, die wir sie bewohnen, nichts anderes sein können als Figuren. Und zwar Figuren auf der Suche nach ihrem Autor.[2]

Anmerkung der Redaktion: Der Artikel mit dem englischen Originaltitel „Born Again in a Second language“ ist zuerst am 4. August 2013 in der New York Times erschienen. Die Übersetzung ins Deutsche und die freundliche Genehmigung des Autors zur Veröffentlichung in literaturkritik.de besorgte unsere Mitarbeiterin Alina Timofte.

[1] Fehlerhafte Schreibweise. Der richtige Nachname des Protagonisten lautet: Montag [Anm. der Übersetzerin].

[2] Anspielung auf Luigi Pirandellos Stück Sechs Personen suchen einen Autor (1925).