Durchgangsstadium auf dem Weg nach Palästina

Eva Edelmann-Ohler analysiert zionistische Deutungen des Ersten Weltkriegs

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Epoche um 1900 steckt voller politischer „Fragen“, die allenthalben kontrovers, mit Leidenschaft, Lust an der Zuspitzung und bitterem Ernst diskutiert wurden. Nicht die unwichtigste darunter war die „Judenfrage“, die um den gesellschaftlichen und kulturellen Ort der in Deutschland lebenden Juden kreiste: Sollten sie sich vorbehaltlos assimilieren, ihr Judentum aufgeben oder sollten sie nicht doch lieber eigene Wege gehen, sich zu ihrem Jüdisch-Sein bekennen, sich stolz und offensiv ihrer, wie man damals bisweilen sagte, „Stammeseigenschaften“, ihres Herkommens und ihrer Überlieferungen vergewissern?  Letzteres bestimmte die Position der 1897 gegründeten Zionistischen Vereinigung, die zwar die Mehrheit der Glaubensgenossen nie erreichte, aber im Zentrum weitläufiger Debatten stand. Ihr Ziel war die ‚Volkwerdung‘ der Juden, die Entdeckung oder besser: die Wiederentdeckung der jüdischen Nation, die – was im Zeitalter des Nationalismus nicht weiter verwunderte – eines eigenen Gemeinwesens bedürfe: einer, wie es 1897 auf dem ersten Zionistenkongreß in Basel hieß, „öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte“, und zwar im Land der Väter, im damals noch osmanischen, mehrheitlich von Arabern bewohnten Palästina.

Das war ein Programm, geradlinig und konsequent gedacht, dessen Realisierung jedoch mit zahlreichen Problemen konfrontiert war. Nicht jeder mochte sich dazu verstehen, die west- und mitteleuropäische Zivilisation zu verlassen und in den unterentwickelten Orient überzusiedeln. Auch eine hier und da propagierte Scheidung jüdischer und nichtjüdischer deutscher Kultursphären war einfacher gesagt als getan. Eine Ahnung von den Schwierigkeiten, die dem innewohnten, vermittelt der berühmte Artikel des jungen Kulturzionisten Moritz Goldstein, ein promovierter Germanist, Lektor und Publizist, der 1912 im deutschnationalen „Kunstwart“ einen Aufsatz publizierte, der hohe Wellen schlug. „Wir Juden“, war da zu lesen, „verwalten den geistigen Besitz eines Volkes, das uns die Berechtigung und die Fähigkeit dazu abspricht“. Der Autor plädierte deshalb für die Schaffung einer jüdischen Nationalliteratur, machte aber zugleich deutlich, dass dies Aufgabe der Zukunft sein werde, dass jedenfalls er und seine Generation sich schwerlich aus dem Zusammenhang mit deutschen Kulturtraditionen würden lösen können beziehungsweise lösen wollen.

Im Blick auf die hier skizzierte politische und mentale Gemengelage durfte man im Sommer 1914 gespannt sein, wie sich der Zionismus in Deutschland, aber auch der im multiethnischen Österreich-Ungarn zum Ausbruch des Krieges stellen würde. Sollte man ohne Wenn und Aber mittun, und wenn ja, welche Auswirkungen würde das auf die eigenen nationaljüdischen Erwartungen haben, und mehr noch: welche Konsequenzen würde das für den internationalen Zusammenhalt der zionistischen Bewegung haben, wenn Zionisten, die in den Armeen aller kriegführenden Mächte dienten und dienen mussten, aufeinander schießen würden? Als im August 1914 in Europa die Lichter ausgingen, eilten die Juden hüben wie drüben zu den Fahnen, auch die Zionisten, auch sie im Bann der rauschhaften Stimmungen jener Tage. So rief die „Jüdische Rundschau“, das Organ der Zionistischen Vereinigung, die „deutschen Juden“ auf, „im Sinne des alten jüdischen Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen“ sich „dem Dienste des Vaterlandes“ hinzugeben.

Eva Edelmann-Ohler betrachtet die Verklammerung von Zionismus und Krieg nicht mit den Augen der Historikerin, sondern mit denen der Literaturwissenschaftlerin. Die Kenntnis ‚realgeschichtlicher‘ Zusammenhänge setzt sie voraus. Ihr Interesse gilt der Frage, welche Aspekte und Tiefenschichten „kultureller Sinnproduktion und Sinndeutung“ sich aus der Sprache der zionistischen Publizistik und Dichtung zwischen 1914 und 1918 erschließen lassen. Dabei spielt die Möglichkeitsdimension des Zionismus eine zentrale Rolle. Denn der Herzl’sche „Judenstaat“ war eine Idee, viel diskutiert zwar, aber nicht Realität. Insofern verknüpfen die sprachlichen Hervorbringungen, die davon handeln, Gegenwart und Zukunft: während des Krieges eindringlicher noch als in den Jahren zuvor. Die Analyse konzentriert sich daher auf „sprachliche Projektionen eines noch nicht realisierten Zustandes“, die eine Brücke schlagen zwischen „hier“ und „dort“, zwischen „jetzt“ und „dann“. In dieser Transformationsperspektive sei, so die Überzeugung der Autorin, eine „systematisch-poetische Grundsignatur zionistischen Schreibens, Sprechens und Erzählens“ eingeschlossen. Diese für die Jahre vor und nach 1914 vergleichend zu entschlüsseln, ist die Aufgabe ihres mit Fachtermini und akademischen Bedeutsamkeitsgesten gespickten Buches, eine an der ETH Zürich vorgelegte Dissertation, deren Lektüre ein hohes Maß an Konzentration verlangt.

Als Basis dienen der Untersuchung literarische wie journalistische Texte aus Zeitungen und Zeitschriften, aus Sammlungen von Essays und Erzählungen. Aus dem daraus geschöpften Material rekonstruiert Edelmann-Ohler zunächst einige der Argumentationsfiguren, die typisch waren für die Vorkriegsepoche. Das bietet wenig Überraschungen, dient jedoch als Folie für die Bilder und Erwartungen, die während des Krieges in der einschlägigen Publizistik anzutreffen sind. Deutlich wird hier die enge Verbindung von Zionismus und Messianismus, die, wie Eva Edelmann-Ohler formuliert, „eschatologische Dimension des zionistischen Unternehmens“. Dessen Protagonisten bemühten sich zwar, dem Ganzen einen säkularen Anstrich zu geben, aber die Nation als neuer Bezugspunkt der jüdischen Existenz blieb der „religiösen Semantik des Judentums“ verhaftet. Max Nordau, einer der wortmächtigen Propagandisten nationaljüdischer Visionen, sah nicht von ungefähr eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem, wie er definierte, „Erscheinen des in Aussicht gestellten Messias“ und jener von ihm und seinen Mitstreitern herbeigesehnten „Rückkehr in das historische Heimatland“, als das Palästina figurierte. Beides sei schwer voneinander zu trennen, sei auf „jeder Seite der jüdischen Liturgie zu finden“.

In der Kritik an der Assimilation und den Assimilationsjuden steckte stets eine gehörige Portion Kulturkritik. Max Nordau zum Beispiel hatte keine Zweifel, dass die Moderne von Degeneration und Entartung durchwirkt sei und namentlich die Juden in Mitleidenschaft gezogen habe. Das Therapeutikum, das er anbot, war der Zionismus. Auch der Kulturzionist Martin Buber sprach 1901 von der „Pathologie der gegenwärtigen Judenschaft“, die nur durch die Rückbesinnung auf deren originäre, historisch überlieferten Werte kuriert werden könne. Insofern war es beinahe folgerichtig, dass der Krieg als Möglichkeit zur physischen und kulturellen Revitalisierung des jüdischen ‚Volkskörpers‘ gedeutet wurde. Was da passiere, war Ende August 1914 in der Prager Wochenschrift „Selbstwehr“ zu lesen, sei von „hoher sittlicher Bedeutung“, sei Ausdruck für die „Reinigung durch die Katastrophe, das große jüdische Symbol der Sündflut“. Das gehörte zu den Strategien überhöhender Legitimierung des Geschehens, die im Übrigen auch anderen Milieus, vor allem den protestantischen, nicht fremd waren, wo man den Waffengang als von Gott gesandte Prüfung ausrief. Franz Kafka, der Freunde im Milieu des Prager Zionismus hatte, selber jedoch kein Zionist war, begegnete, wie die Autorin in einer aufwendigen Interpretation der 1917 geschriebenen Erzählung „Ein Landarzt“ darlegt, den im zionistischen Diskurs verankerten Regenerationshoffnungen allerdings mit Skepsis. Das Resultat des Krieges sei, so die von Eva Edelmann-Ohler angebotene Lesart, nicht Erneuerung, Heilung und Belebung, sondern „Trauma – und ein andauerndes Irren Ahasvers durch die Zeiten“.

Aus schwächlichen „Nervenjuden“ sollten in den Schützengräben und auf den Schlachtfeldern gestählte „Muskeljuden“ werden. Der Krieg galt in dieser Hinsicht als Vorbereitung auf die Kolonisationsarbeit in Palästina. Ein Jude sei „eher zum Krieger als zum Hausierer geboren“, hieß es 1915 in einem Büchlein, das sich an jüdische Frontsoldaten richtete. Fabius Schach, in Deutschland ein Zionist der ersten Stunde, glaubte im Krieg „die stärkste Hemmung der Degeneration“ zu erkennen: „Weil er wie ein Sturm mit allem Morschen und Kranken aufräumt, und nur das Große, Kräftige bestehen läßt“. Der Mediziner Felix A. Theilhaber, der 1911 das Publikum mit einer sozialstatistisch untermauerten Studie vom „Untergang der deutschen Juden“ erschreckt hatte, nahm dieses Thema in einer Schrift über die „Juden im Weltkriege“ wieder auf, verknüpfte es aber mit einem Lob auf jüdischen Einsatzwillen und jüdische Tapferkeit, abzulesen unter anderem an der Zahl der verliehenen Orden und der gefallenen Kämpfer.

Das Buch kam 1916 auf den Markt, in jenem Jahr, in dem die vom preußischen Kriegsministerium angeordnete Judenzählung unter den Betroffenen für erhebliche Unruhe sorgte und die Begeisterung für den Fronteinsatz merklich dämpfte. Arnold Zweig, damals ein noch junger Dramatiker und Romancier, erlebte die diskriminierende Prozedur als Bausoldat in Frankreich und schrieb sich den darüber aufwallenden Zorn mit einer kleinen, in der „Jüdischen Rundschau“ gedruckten Novelle vom Leib: „Judenzählung vor Verdun“, die Eva Edelmann-Ohler einer detaillierten, nicht in jedem Punkt schlüssigen Interpretation unterzieht. Zu Recht sieht sie darin eine entschiedene „Abkehr“ von Ideologien aus dem Umfeld des „Burgfriedens“, der anfangs auch der von Martin Buber beeinflusste Kulturzionist Zweig angehangen hatte. Indem der Ich-Erzähler von einem Zählappell der gefallenen Juden träumt, entwirft er ein expressives Gegenbild zu der von der Militärbürokratie befohlenen und durchgeführten Konfessionsstatistik, die freilich nur Juden, nicht aber Katholiken und Protestanten registrierte.

Die den Gräbern entstiegenen Gestalten treten in militärischer Ordnung an, legen ihre Rangabzeichen und Verdienstmedaillen auf den Tisch eines Schreibers und tragen ihre hebräischen Namen ein, nennen Alter und Beruf und auch den Ort, an dem der Tod sie ereilt hat: „Die Toten schwiegen in Scham und Trauer“. Die Botschaft des Textes verrät die Schlusssequenz. Die Leichname sinken zurück in ihre Gräber und verwandeln sich in Werkstoff für den Aufbau Palästinas. Der Träumende fragt, wann der Messias kommen werde und erhält zur Antwort, er sitze vor den Toren Roms und warte bereits auf ihn, den Erzähler. Dieser erwacht, so lautet der letzte Satz, „vor jähem, grellem herzerneuerndem Schreck“.  Darin drücken sich Einkehr und Umkehr aus, Abschied von den eigenen Illusionen aus den ersten Wochen und Monaten des Kriegs, zugleich Wegweisung für die Zeit danach, in der sich eine noch im Ungefähren verharrende Entscheidung für das Land der Väter andeutet. Dass Eva Edelmann-Ohler zum Verständnis dieser, schon aus Zweigs Biographie leicht zu erschließenden zionistischen Transformationsperspektive die aufmarschierten Gefallenen mit Hilfe ikonographischer Parallelisierungen glaubt als „Inszenierung des Feindes“, respektive als „feindliches Kollektiv“ deuten zu müssen, wirkt allerdings reichlich bemüht und vermag nicht zu überzeugen.

Titelbild

Eva Edelmann-Ohler: Sprache des Krieges. Deutungen des Ersten Weltkriegs in zionistischer Publizistik und Literatur (1914–1918).
Reihe: Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur und Kulturgeschichte. Band 88.
De Gruyter, Berlin 2014.
294 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110370218

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