Gegen die Allmacht der Zeit

Die dichtungstheoretisch bedeutsame Betrachtung der Poesie von Heinz Schlaffer liegt jetzt auch als Taschenbuch vor

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gute Gedichte klingen ewig. Und Raum gibt immer nur der Augenblick dafür. Aber: wie, wodurch und warum rühren sie an? Liegen die Gründe dafür allein in ihnen selbst? Wären Gedichte also losgelöst sowohl von produktionsästhetischen als auch rezeptionsästhetischen Zusammenhängen aus sich heraus als gelungene, oder, um es mit einem Fachbegriff zu formulieren, als des Kanons würdige Poesie auslotbar?

Immerhin können sich Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlicher Sozialisation leicht darauf einigen, dass Johann Wolfgang Goethes „Prometheus“ braust, hin und her gerissen zwischen Lyrik und Ballade, Rainer Maria Rilkes „Karussell“ melancholisch anrührt, der „Bumerang“ von Joachim Ringelnatz ‚verschellt‘, um es mit einem Neologismus von Hermann Burger auf den Punkt zu bringen, einer Form des Verbs „verschollen“, die der Duden in dieser Form nicht kennt. 

Ebenso wenig Widerstand dürfte es erregen, schlüge jemand Heinrich Heines „Nachtgedanken“, Gottfried Benns „Einsamer nie-“  und Kurt Tucholskys „Luftveränderung“ als zweifelsohne der hohen deutschsprachigen Lyrik-Kultur zugehörig vor. Und vollends einig wären sich wohl alle hier eingangs imaginierten Lyrikjuroren darin, dass Paul Celans „Todesfuge“  zu den „besten deutschen Gedichte[n]“ zählt, eine Auswahl, die Marcel Reich-Ranicki traf und erstmals 2003, dann in zweiter Auflage 2012 im Insel Verlag vorlegte. Eine Auswahl, auf die ich mich hier auch stütze, zusätzlich zu den von der Antike bis zur Moderne reichenden Beispielen, die Heinz Schlaffer in seinem sehr lesenswerten, sowohl gattungstheoretisch als auch literaturhistorisch versierten Beitrag trifft. Doch: Wäre dieses Einvernehmen wirklich zeitlos oder bedürfte es nicht dennoch immer erst der Zuschreibung und bedürfte die Zuschreibung nicht immer erst der kulturellen Sozialisation?

Und endlich: Was macht das lyrische Sprechen aus? Ist es der Bezug des lyrischen Ich zu der überlebten und zur Sprache gelassenen Seelenpein des Autors oder ist es, im Gegensatz dazu, die ungeheure Selbstbezogenheit der Sprache, die ganz Klang, ganz Rhythmus, ganz Metrum, also ganz sie selbst wird, befreit von jeder kommunikativen Pflicht der Referenz? Ist also Lyrik die zweckloseste Form poetischer Rede, L’art pour l’art, etwa im Sinne der bekannten poetologischen Reflexion Benns, einfach „Zaubern, Seiltrick, Nichts und darüber Glasur?“ Oder ist Lyrik endlich und ganz und gar im Gegensatz dazu (wieder) idealistischer Inbegriff  (säkularisierter) sakraler Klangbotschaft? Preist sie also etwa im frühromantischen Sinne, wenn nicht Gott, so doch immerhin die Dichtung und sei es auch nur im Modus des sakralen Spiels?

Die Pointe des sechzehn Kapitel und eine Einleitung umfassenden Tour d’Horizon der Dichtungsgeschichte ist so simpel wie überzeugend und in zweifacher Hinsicht brisant. Schlaffer beginnt seine Untersuchung mit einem Zitat aus einer griechischen Ode an Aphrodite, die von Sappho stammt und lässt sie mit dem Gedicht „Ariel“enden, das Sylvia Plath 1962 schrieb. Entgegen tradierter Vorstellungen, wonach Lyrik als Seelenausdruck des Dichters oder der Dichterin, erst einmal zur Sprache gelassen, so zweckfrei wie mittellos nur schön klingen will und sonst gar nichts, votiert der Germanist dafür, dass Lyrik ganz im Gegenteil dazu weder rein noch zweckfrei sei. Für ihn wird Lyrik zu der zweckgebundenen Gattung literarischen Sprechens überhaupt und damit zugleich auch zu dem Genre, das dem dichterischen Selbstausdruck allein aufgrund des extrem hohen Formwillens am entschiedensten entgegensteht oder gar widersteht.

Der Zweck der Lyrik liegt in der Anrufung,  im Preisen, welches, spätestens mit der Frühromantik und dann in der Moderne, nur umso klarer und gnadenloser lediglich noch im Modus des literarischen Spiels geschehen kann: O Dekadenz, o Schein, o Tanz, o Rhythmus, der du niemals an und für sich, sondern nur mittels Vers und Spitzentanz beschreibbar wirst! Denn laut Schlaffer hat Dichtung eben darin eine Aufgabe und Liaison zugleich.

Lyrik ist hybride Geistersprache, „in dem sie außersprachliche Rhythmen in sich aufnimmt“, die mithilfe ihrer extrem geregelten und gebundenen Weise gegen die Allmacht der Zeit ins Sprachfeld rückt. Und sie bleibt dies gleichsam ex negativo auch dann, wenn sie durch die harte Schule moderner Literatur gegangen als aktuelle Dichtung in Verszeilen ihren Auftritt hat, fern von bestimmbaren Rhythmen und tradierten Metren und Reimen. Der letzte Satz dieser Reise ins historisch gewordene und variierende Zentrum der poetischsten aller Gattungen lautet dann auch konsequent: „Die Aufgaben der Lyrik haben sich erledigt, das Gedicht lebt weiter.“

Schlaffer wählt einen nur um eine Nuance von anderen Beiträgen abweichenden Zugang, der genau deshalb geeignet ist, den Blick auf Innovatives auch im Rahmen universitärer und schulischer Unterrichtseinheiten zur Poesie zu eröffnen.

Titelbild

Heinz Schlaffer: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
203 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783150203514

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch