Von der Prärie in die Badewanne

Céline Minards Roman „Mit heiler Haut“ ist eine zeitgemäße und künstlerisch anspruchsvolle Hommage an das Western-Genre

Von David DetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Deters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Western-Genre hat in den letzten Jahrzehnten in Film wie in Literatur gleichermaßen einen schweren Stand gehabt. Nun hat die 1969 in Rouen geborene Französin Céline Minard, die sich zuvor bereits in ihren von der Kritik überwiegend sehr positiv aufgenommenen Romanen verschiedenen populären Genres wie dem Krimi und dem Fantasy-Roman zugewendet hat, mit ihrem Roman Mit heiler Haut (Faillir être flingue, Frankreich 2013) den Versuch unternommen, dem darbenden Genre neuen Schwung zu verleihen.

Gleich zu Beginn präsentiert Minard dem Leser mehrere Erzählebenen und Schauplätze, die in ihrer Vielzahl zunächst verwirrend wirken und nicht immer leicht auseinanderzuhalten sind, jedoch immer wieder und in zunehmendem Maße miteinander in Verbindung gebracht werden. So erfahren wir zunächst von Brad, der mit seinem Bruder Jeffrey, seinem Sohn Josh sowie seiner todkranken Mutter auf dem Weg in den Westen ist, um dort ein Stück Land für sich zu finden. Dann lesen wir von Zebulon, der sich alleine durch die Prärie schlägt, von einer heimatlos gewordenen indianischen Schamanin namens Über-die-Ebene-fließendes-Wasser, die einen sterbenden Weißen heilt, schließlich von einem Pferdediebstahl, wobei wir in der Folge in gleicher Weise die Perspektive des Diebs Elie wie seines Opfers Bird geboten bekommen.

Was alle Figuren (mit Ausnahme der Schamanin) eint, ist, dass sie auf der Suche nach dem persönlichen Glück schließlich, sofern sie nicht zuvor zu Tode kommen, in einer noch im Entstehen begriffenen typischen Wildwest-Kleinstadt landen. Hier will jeder für sich mit seinen Mitteln eine neue Existenz aufbauen, doch ist auch diese gefährlich und von Schatten der Vergangenheit bedroht.

Minards Roman enthält all die Elemente, die man von einer klassischen Wildwest-Geschichte erwartet: Wilde Ritte durch die Prärie, Schießereien und Prügeleien, Cowboys und Viehherden, kriegerische Indianerstämme, den Saloon mit seinen frivolen Vergnügungen. Die Stärke von Mit heiler Haut liegt freilich darin, dass diese Western-Klischees nicht einfach bis zum Letzten ausgereizt, sondern durch plötzliche Wendungen und originelle Abweichungen transzendiert werden. So bleiben die auftauchenden Reminiszenzen an das Bild des „edlen Wilden“ oder auch an das Geschlechterverhältnis in klassischen Western durch erzählerische Kniffe letztlich Anspielungen. Und so fehlt es auch nicht an komischen Elementen, die das Geschehen ironisch kommentieren. Eine Musikerin stößt spontan ein hohes C aus, als jemandem in einer Schlägerei im Saloon ein Tritt verpasst wird, ein bärtiger Haudegen erscheint in Frauenkleidern im Saloon, um an einem „Mädelsabend“ zur verehrten Besitzerin gelangen zu können.

Wer deshalb jedoch eine Genreparodie erwartet, wird nicht auf seine Kosten kommen, denn Minard nimmt die Figuren und ihre Geschichten durchaus ernst. Ihre Helden sind keine adrenalinsüchtigen Draufgänger, keine brutalen Soziopathen. Ihre Motive sind vielmehr emotional zutiefst nachvollziehbar. Relativ spät erst werden in Rückblenden die verschiedenen Vergangenheiten einzelner Figuren beleuchtet, ihre tragischen Erfahrungen oder sozialen Einengungen, die das Streben nach Freiheit und Glück, das sie jetzt leitet, freigesetzt haben. Selbst in egoistischen und verbrecherischen Handlungen der Figuren ist Empathie möglich, etwa wenn der mit der Aufsicht über die eben eroberte Herde von Pferden beauftragte Elie sich von deren Energie mitreißen lässt und in einem Glücksrausch mit ihnen durchbrennt, anstatt seinen Freunden vom Indianerstamm in der beginnenden Schlacht zu helfen.

Insgesamt lässt sich vielleicht sagen, dass Minard den klassischen weißen Westernhelden, nach anfänglicher Idealisierung in Literatur und Film lange Kritik von vielerlei Seiten ausgesetzt, in eine zeitgemäße Erzählung einzubinden sucht, ohne ihn dabei zu demontieren, dennoch aber auch Indianer und starke Frauen zu ihrem Recht kommen lässt. Man könnte ihren Roman also als einen Versuch sehen, den klassischen Western mit seinen weißen Helden mit dem revisionistischen Western, in dem zuvor an den Rand gedrängte Gruppierungen stärker in den Fokus rücken, zu versöhnen.

Was die Schauplätze angeht, lebt der Roman im Wesentlichen vom Gegensatz zwischen der wilden Prärie, in der die Figuren in der ersten Hälfte des Romans weitgehend isoliert voneinander sich ihren eigenen Weg bahnen müssen, und der Stadt, die in der zweiten Romanhälfte als Kristallisationspunkt der Hoffnungen der einzelnen Figuren zum zentralen Schauplatz wird. Hier müssen sie sich in ein bestehendes, freilich noch recht rudimentäres, Gesellschaftssystem einfügen, das sie mit ihren eigenen Fähigkeiten und ihren jeweiligen Visionen folgend, aber auch unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Gemeinschaft, weiterentwickeln.

So ist Mit heiler Haut auch eine Geschichte der Entstehung von Zivilisation mit ihren unterschiedlichen Triebkräften, individueller Schaffenskraft einerseits und auf Einhegung impulsiven Handelns zielendem gesellschaftlichem Ordnungsdrang andererseits, sowie dem Versuch ihrer Harmonisierung. Gilt in der Prärie noch das Recht des Stärkeren und das Gesetz der Rache, werden in der Stadt allmählich Möglichkeiten der zivilen Streitschlichtung entwickelt. Der Streit um ein Paar Stiefel wird so durch einen friedlichen Wettstreit im Beisein der Stadtbevölkerung und unter Einsatz der Saloonbesitzerin als neutraler Schiedsrichterin entschieden. Mit der Zivilisation kommt andererseits auch die Bequemlichkeit, es werden Luxusgegenstände eingeführt, ein Badehaus errichtet. Vor allem letzteres verkündet den Einzug der Zivilisation: „,Sauberkeit, Zeb, ist das Ende des Abenteuers. Wie wenn man in einen Nachttopf pinkelt und aus Gläsern trinkt, anstatt die Flasche anzusetzen.ʻ“ Geradezu köstlich und im Humor des klassischen Western wird dieser Zivilisierungsprozess geschildert, als einer der rauen Kerle der Stadt, seinem hilflosen Widerstreben zum Trotz, dazu gezwungen wird, sich zum ersten Mal in seinem Leben zu baden und wider Erwarten sogar Gefallen daran findet.

Die Sprache des Romans ist weitgehend einfach und klar gehalten, was gut zur kargen Landschaft der Prärie und der rauen Atmosphäre des Wilden Westens passt. Dennoch schafft es Minard, in beeindruckenden Bildern atmosphärische Dichte zu erzeugen: „Er blieb auf dem Felsgrat stehen und betrachtete die Prärie ringsumher. Ihm war, als stünde er auf einer schwarzen Perle, die auf ein herrliches Kleid aus Bisonleder genäht war. Der Wind fuhr über das tanzende Gras wie über einen leichten Stoff. In der Ferne, im Osten wie im Westen, war die Ebene von feinen Strichen gerahmt, die den Stacheln eines Stachelschweins glichen. Und es hätte ihn nicht verwundert, in den nordwestlichen Niederungen eine Geisterstadt zu erblicken.“

Immer dann jedoch, wenn sich der Roman schon beinahe zu sehr in der Beschreibung der Lebenswelt zu verlieren scheint, bringt Minard mit gezielt gesetzten Ereignissen wieder die Handlung in Gang, woraufhin ihre Figuren zumeist in Kämpfe verwickelt werden. Nüchtern und schonungslos wird die Gewalt beschrieben, nichtsdestoweniger aber in bester Westerntradition auch ästhetisiert: „Die Kugel zerfetzte ihm das rechte Auge, trat aus dem Hinterkopf wieder heraus, nachdem sie die Hälfte des Schädels zertrümmert hatte, und schlug schließlich laut krachend in den Stamm einer großen Kiefer ein. Das zweite Auge schien sich übermäßig weit zu öffnen. Der Bär hob die Tatzen, als wollte er sich ergeben oder die Sterne berühren, die sich ihm so plötzlich entzogen, dann fiel er der Länge nach über das Pferd, dessen Bein endlich zur Ruhe gekommen war.“

Am Ende ist es aber nicht die erfolgreiche Anwendung von Gewalt, sondern sind es vor allem der aus der Vorstellungskraft schöpfende Ideenreichtum, die von der Vision angetriebene Tatkraft und die Fähigkeit zur Kooperation, die die Helden des Romans auszeichnen und den Erfolg des Gemeinwesens begründen. Minard erzählt so im Grunde eine zivile Geschichte der Expansion in den Westen. Ihr Roman ist also mitnichten nur etwas für Leser, die ein klassisches Wildwest-Abenteuer erleben wollen. Vielmehr hat sie auf geradezu perfekte Weise die Bilder des Wilden Westens, die Teil der kollektiven Vorstellungswelt geworden sind, wieder hervorgerufen und ihnen dabei zugleich eine neue, unverbrauchte Erscheinungsform gegeben. So hat sie in stilistischer Meisterschaft ein facettenreiches Werk geschaffen, das auf originelle Weise vom Mythos des Westens, von Lebenswillen und Freiheitsliebe und der Fähigkeit, diese in Taten zu wandeln, erzählt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Céline Minard: Mit heiler Haut. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
302 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783957571007

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