In die Welt hinein

Der Anthropologe David Le Breton wirbt in seinem Essay „Lob des Gehens“ für eine der schönsten Arten der Fortbewegung

Von Bastian SchlüterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bastian Schlüter

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Das Gehen hat Konjunktur. Nicht, weil es alle betreiben würden, aber weil es so verheißungsvoll ist. Wer gehend unterwegs ist, nimmt die Welt ganz anders wahr. Wer geht, tritt zu sich selbst in ein ganz anderes Verhältnis, er schlägt sozusagen allen modernen Fortbewegungsarten, die so wohlfeil Zeit und Raum zu überlisten vermeinen, ihrerseits ein Schnippchen. Denn er taktet sich wieder ein in das Gleichmaß von Zeit und Raum und betritt gehend die Schwelle, auf der die Zeit zum Raum wird – und vice versa. Gehend findet der Mensch zum Menschen zurück und erlebt darüber die Welt ganz neu, weil sie ihm in jenem gleichsam anthropologischen Rhythmus erfahrbar wird, der Körper und Geist, Bewegungsapparat und Sinne in Einklang bringt. Gehen – und das kann meinen: flanieren, spazieren, wandern, pilgern, erkunden – gehört zu den schönsten und einfachsten Möglichkeiten, der weithin erhofften Verlangsamung des Lebens ein gutes Stück näher zu kommen und zumindest temporär zum Beschleunigungs-Aussteiger zu werden.

Neu ist das natürlich nicht. Schon im 18. Jahrhundert hat Jean-Jacques Rousseau in zivilisationskritischer Absicht den Spaziergang besungen. Die Romantiker haben das Wandern entdeckt, und fortan hat jede Generation Berichte, Schilderungen, Beschwörungen hinterlassen, die die Reise zu Fuß durch Europa oder die Neue Welt in Worte fassen, die das Pilgern in religiöser oder weltlicher Absicht feiern. Dem Flaneur des 20. Jahrhunderts wurden die modernen Städte zu Erkundungsräumen zu Fuß, und heute scheinen all diese Praktiken der Selbst- und Welterfahrung wieder ganz neu ins Bewusstsein zu rücken. Vielleicht tatsächlich deshalb, weil es mit der schon seit mehreren Jahrzehnten versprochenen Entschleunigung immer noch nicht geklappt hat. Die utopische Vorstellung, dass das lange beschworene Ende der modernen Arbeitsgesellschaft eine breite und für alle nutzbringende Freisetzung von Zeit mit sich bringen werde, hat sich nicht bewahrheitet. Und so lobt man einmal mehr das Gehen.

Der französische Soziologe und Anthropologe David Le Breton hat das schon im Jahr 2000 getan. Dass sein schöner Essay zum Lob des Gehens erst 15 Jahre später ins Deutsche übersetzt wurde, mag für die angewachsenen Bedürfnisse unserer Tage stehen, sich in Essays, Ratgebern und Brevieren die Kunst der Entschleunigung, die Gelassenheit und Muße nahebringen zu lassen. Le Breton gelingt es ganz hervorragend, seine Reise durch die Kulturgeschichte des Gehens – die in weiten Teilen eine Literaturgeschichte ist – quasi selbst zum Spaziergang werden zu lassen. Von Platons Phaidros über die großen Gehenden der Moderne wie Rousseau, Henry David Thoreau und Friedrich Nietzsche bis zu Nikos Kazantzakis oder Patrick Leigh Fermor lässt er diese Geschichte in ausführlichen Zitaten zu Wort kommen, klug und mit dem sympathischen Hang zum Sinnspruch kommentierend. Manchmal hätte man von dem zumal in der Geschichte des Körpers so ausgewiesenen Anthropologen noch einiges mehr über die Tiefendimensionen seines reichhaltigen Themas erfahren; Le Breton macht aber durch die hin und wieder eingestreuten kritischen Bemerkungen zur autofahrenden und handytippenden Gegenwart klar, dass er den Titel seines Essays ernst nimmt. Kein wissenschaftliches Buch sollte es werden, sondern in der Tat eine durchaus leidenschaftlich-liebevolle Werbung für die Schönheit der Welt, wenn man sie denn gehend durchmisst. Deshalb: Nicht zuletzt als Urlaubslektüre bestens zu empfehlen!

Titelbild

David Le Breton: Lob des Gehens.
Übersetzt aus dem Französischen von Milena Adam.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2015.
190 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783882210347

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