Viel schlummernde Kraft

Holger Wolandt erzählt Selma Lagerlöfs Lebensgeschichte

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Den Plan, Schriftstellerin zu werden, hegte Selma Lagerlöf bereits als Kind. Seit sie acht Jahre war, wusste sie um ihre „echte Begabung“ zur Poesie. Auch die Umstände – sie war mit einem Hüftleiden zur Welt gekommen – wiesen ihr den Weg: „Stell dir vor“, schrieb sie an eine Freundin, „ich wäre eine Schönheit gewesen, hätte einen ausgezeichnet gebildeten Mann bekommen und eine wichtige und gesicherte Stellung, dann hätte ich so werden können wie sie. Wäre sie hässlich und hinkend gewesen und hätte kein Mann sie angeschaut, und hätte sie seit ihrer Jugend um ihr tägliches Brot kämpfen müssen, dann wäre aus ihr wohl so jemand geworden wie ich.“

Ihre Familie war, wie viele andere im schwedischen Värmland, verarmt – Gut Mårbacka, seit dem 17. Jahrhundert in Familienbesitz, musste 1888 versteigert werden –, und nur dank ihres Bruders Johan, der ihr einen Kredit verschaffte, konnte die junge Frau in Stockholm das Lehrerinnenseminar besuchen. Diese verlorene Welt zu beschreiben, wurde 1881 ihr Plan, den sie zehn Jahre später, nachdem ihre Lyrik keinen Anklang gefunden hatte, umsetzte. Die ersten Kapitel ihrer „Gösta Berlings Saga“ entstanden 1890 für einen Wettbewerb der Frauenzeitschrift „Idun“ – den sie gewann. Die enorme Summe von 500 Kronen Preisgeld entsprach der Hälfte ihres Jahresgehalts als Lehrerin.

Über den Zusammenhang ihrer Saga mit dem Untergang der Värmland-Welt schrieb Lagerlöf: „Ich habe mir auch gedacht, dass die Leute in Värmland vielleicht ein solches Buch brauchen, das ihr Leben mit etwas Romantik umgibt. Als ich zuletzt die Kirche der Gemeinde meiner Kindheit besuchte, fand ich die Menschen dort so seltsam alt, arm und in jeder Hinsicht verbraucht. Da dachte ich, dass ich ihnen ihre Märchen und Sagen zurückgeben will, um ihnen zu zeigen, wie viel schlummernde Kraft es in ihnen wie in ihren Vätern geben muss, und um sie wieder die Kunst zu lehren, noch dem einfachsten Leben einen Anstrich der Schönheit zu verleihen.“

Der Skandinavist Holger Wolandt konnte die private Korrespondenz, die seit einigen Jahren der Forschung zugänglich ist, auswerten, um – bald neunzig Jahre nach der ersten deutschen Lagerlöf-Biographie von Walter A. Berendsohn – das Leben der schwedischen Nobelpreisträgerin neu zu erzählen. Er übersetzte ihre Briefe und glich sie mit der Wirklichkeit ab, denn Lagerlöf hat ihr Leben stark stilisiert: „Eine gute Pointe war ihr immer wichtiger als die faktischen Umstände.“

Wolandts Darstellung hält sich eng an den Leitfaden der Biographie und der Werkgeschichte, berücksichtigt aber auch die Positionen und Erkenntnisse der Lagerlöf-Forschung, die viel sozialgeschichtlich Bedeutsames zusammengetragen hat, um den einzigartigen Rang dieses schwedischen „Nationalmonuments“ verstehen zu können. Zu erwähnen ist die Frauenbewegung – denn die „vielen starken Frauen, die Selma Lagerlöf auftreten lässt“, sind zentral für ihr Werk, ferner Lagerlöfs Auseinandersetzung mit dem Sozialismus und der südländischen Frömmigkeit (in „Die Wunder des Antichrist“). Religiöse Stoffe, Sektenstoffe zumal, sind in der skandinavischen Literatur nichts Ungewöhnliches. Wolandt nennt einige der berühmtesten Beispiele: Lagerlöfs Roman „Jerusalem“ von 1901/02 über schwedische Auswanderer, die im Heiligen Land die Wiederkunft Christi erwarten, „Skipper Worse“ aus dem Jahr 1882 von Alexander Lange Kjelland – als die Geschichte eines wohlhabenden Kapitäns, der in die Fänge einer pietistischen Sektiererin gerät und an ihr zugrunde geht – und „Lewis Reise“ (2001) von Per Olov Enquist über die schwedischen Pfingstbewegung, die sich durch religiösen Fundamentalismus und Machtmissbrauch korrumpiert.

Für Selma Lagerlöf gab es im Grunde nur zwei Dinge im Leben: „große Liebe und harte Arbeit“. Die Liebe zu einer anderen Frau – Valborg Olander, eine Lehrerin –, durch heftige Küsse bezeugt (und eifersüchtig bewacht durch Sophie Elkan, eine jüdische Freundin) sowie die Arbeit am Werk, die reiche Früchte trug: So konnte sie, als erste Frau überhaupt, den Nobelpreis für Literatur erringen. Fünf Jahre später, 1914, wurde sie in die Schwedische Akademie berufen und durfte nun selbst über künftige Nobelpreisträger mitentscheiden. Außerdem gelang es ihr, das inzwischen stark verfallene Gut Mårbacka zurückzuerwerben und nach ihren Vorstellungen umzubauen und wiederherzustellen.

Lagerlöf überzeugte durch ihre Vielseitigkeit: Mal erzählte sie eine düstere Legende wie in „Der Fuhrmann des Todes“ von 1912, zu der sie unter anderem der Theosoph Rudolf Steiner animiert hatte, mal schwelgte sie in leidenschaftlich-verfahrenen Sittengemälden wie etwa in der „Löwensköld“-Trilogie, mal war sie dem Realismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet, dann wieder Repräsentantin der Frühen Moderne. Ein großer Erfolg war ihr zweibändiges Heimatkundebuch „Nils Holgerssons wunderbare Reise“ aus dem Jahr 1906/07, das – als Lesebuch für Volksschulen gedacht – auch international reüssieren konnte. In ihrer Autobiographie („Mårbacka“, 1922ff.) verknüpfte Lagerlöf kurze Prosa-Vignetten von „alten Gebäuden“ und „alten Menschen“ zu einem Zyklus – „kein Roman, aber doch etwas Zusammenhängendes“, wie Wolandt urteilt.

Mit dieser sachkundigen Biographie, die Selma Lagerlöf ausführlich selbst zu Wort kommen lässt, indem sie ihre Briefe zitiert, verteidigt Holger Wolandt die Autorin gegen so manche ungerechtfertigte Kritik. So weist er die Küchenpsychologie ihres dänischen Biographen Henrik Wivel zurück, der behauptet hatte, Lagerlöf habe mit dem großen, aufwendigen Umbau des väterlichen Gutes Mårbacka eine Grablegung der Welt von gestern betrieben. „Dem ließe sich entgegenhalten“, so merkt Wolandt nüchtern an, „dass das alte Mårbacka durch die Versteigerung und den Verkauf ohnehin verloren gegangen war und in den drei Bänden der Lagerlöf-Memoiren lebendiger weiterlebt, als ein Gebäude das jemals tun könnte.“

Diese unaufgeregte Art des Abwägens und Argumentierens ist die beste Werbung für eine Autorin von Rang, die in (fast) jeder ihrer Rollen überzeugen konnte. Mitte der 1920er-Jahre begann die Gutsherrin, feines Hafermehl zu produzieren und zu vertreiben – ein Verlustgeschäft, aber ein überaus beglückendes. Holger Wolandt beteiligt sich weder an den „mythologischen Überhöhungen“, die der Dichterin oft zuteil wurden, noch an den Kränkungen, die sie erfahren hat.

Bis ins hohe Alter war die Schriftstellerin produktiv. Zwar ging es mit ihren Arbeiten langsamer voran, dann und wann aber erfasste sie auch ein „Anfall von Schriftstellerraptus“, begleitet von „außerordentlich schneller und leichter Produktion“. Ihre zahlreichen Übersetzer in der ganzen Welt, denen sie gern Rede und Antwort stand, kamen bisweilen kaum nach, zumal sie auch formal ständig experimentierte und variierte. Holger Wolandt ist hier eine vorzügliche Darstellung eines großen Lebens gelungen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 22.9.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Holger Wolandt: Selma Lagerlöf. Värmland und die Welt. Eine Biografie.
Urachhaus Verlag, Stuttgart 2015.
320 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783825179137

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