Philosophische Leseerfahrungen

Alexander Kluge erkundet den „30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann“

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Anstelle eines Nachworts“ fügt Alexander Kluge seinem Buch über den „30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann“ tagebuchartige Notizen bei, in denen der Autor über sein Vorhaben, über den 30. April 1945 zu schreiben, reflektiert. An einer Stelle liest man: „Das Markante an diesem Tag scheint mir dagegen eine fast vollständige (den Tod Hitlers ahnende, aber von ihm unabhängige) Wandlung in den Köpfen der Überlebenden. Es entsteht hier eine Öffnung zur westlichen Welt, die später das Wirtschaftswunder ausmachen wird.“ Da findet sich unerwartet formuliert, wonach Kluge in diesem Buch mit seinen Geschichten, die zu Geschichte werden, sucht. Jene Erkenntnis in der Unmenge der kleinen Geschehnisse, die auf etwas verweist, was die akademische Geschichtserzählung nie wird erkennen können, weil es nicht nachweisbar ist – aber dennoch vorhanden. Eben „die Lücke, die der Teufel läßt“.

Solche Lücken unterbrechen den Fortgang der Geschichte für kurze Augenblicke des Stillstands. Sie entstehen, wenn die Vergangenheit noch nicht vorüber und die Zukunft noch nicht begonnen hat. So etwa, wenn die Züge der Deutschen Reichsbahn noch nach Fahrplänen und Bestimmungen fahren, die am 30. April längst hinfällig geworden sind: „Auf den Gleisen, die vom Ruhrgebiet bis in die Lombardei führten, traf noch am 30. April an der Grenzstation der Schweiz ein einzelner, um 14 Wochen verspäteter Kohlenzug ein – dies aufgrund von Verträgen mit dem Reich, die bis in den Dezember 1943 zurückreichten.“ Die Bestimmung dieses Zuges ragt aus der Vergangenheit und behauptet Trägheit: „Vieles, was liegengeblieben war, sollte noch erledigt werden.“ Das ursprünglich zu Erledigende hat seinen Sinn verloren, eine neue Orientierung wird erwartet. So harrt im Reichspropagandaministerium – das „Gebäude kann, aufgrund seiner Beschädigungen, als Ruine bezeichnet werden oder als Höhlensystem gelten“ – als „letzter Dichter“ ein Beamter aus und wartet „auf eine Gelegenheit, mich irgendeiner feindlichen Behörde zu ergeben. So bleibe ich auf meinem Platz. Mein Stuhl verfügt über eine Armlehne, wie sie nach den Richtlinien vom Ministerialrat aufwärts einem Beamten zustehen“.

Kluges kleine Texte schildern kein Chaos. Etwas ist geblieben, an dem man sich festhält, bevor der Untergang droht. Oder übersteht man ihn am 30. April 1945? In Graz, erzählt Kluge in einer Miniatur, „fuhr in den Tagen […] ein einziger Straßenbahnwagen im Kreis um die Innenstadt. Fahrgeld wurde nicht mehr erhoben.“ Hier erkannte ein Oberfeldarzt den Feldmarschall List, „der vor vier Jahren den Griechenlandfeldzug befehligt hatte. Daß dieser Mann ohne Gefolge die unentgeltliche Straßenbahn benutzte, so der Arzt, signalisierte mir das Ende der Epoche.“

Am Ende dieser Epoche geht die Fluchtbewegung, noch unbestimmt, in Richtung Westen: „Gitti und der Captain wanderten am Ufer und hielten sich an den Händen gefaßt“. Doch der Plan ihrer Liebesgeschichte verweht alsbald: „Schon die Erörterung der einzelnen Schritte dieses Plans zeigte, wie wenig er durchführbar war. Beide waren sie zu intelligent für Abenteuer in den Grundwassern des Lebens.“

Auf der Westseite der Elbe stoppten zwei GIs einen Zivilisten, den sie für einen verkleideten Offizier hielten. Er führte zwei Koffer mit sich, die gefüllt waren mit Aktien. „Sie seien das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt wären, interpretierte der deutsche Dolmetscher die Antwort des Zivilisten“ auf eine Frage der US-Soldaten. „So ließen die GIs diesen ‚Narren mit den papiergefüllten Koffern‘ auf der Straße nach Westen weiterziehen. Die Papiere lagen enggepreßt aufeinander und waren mit Klammern zusammengehalten.“  

Kluges Texte sind kurz, zuweilen nur wenige Sätze lang. Selten reichen sie über eine Seite. Sie erscheinen zunächst wie zufällig angeordnet. In Form und Inhalt jedoch folgt Kluges Erzählweise dem erkenntnistheoretischen Anspruch, den Walter Benjamin in seinem „Passagenwerk“ notierte: im Einzelmoment „das Kristall des Totalgeschehens“ zu entdecken. Diesem dialektischen Erzählverständnis verpflichtet, konstruiert Kluge sprachlich sorgsam seine Textminiaturen. So enstanden zuweilen kleine Perlen. Kluges Texte entfalten einen eigensinnigen Reiz, der sie auch als einzelne Fundstücke lesenswert macht. Aber ihren Mehrwert entwickeln sie erst in der Zusammenführung. Sie beziehen sich aufeinander und entwickeln sich.

Das gilt auch für einen Aspekt, auf den Kluge an einer Stelle selbst hinweist. Er liest Texte des Buches seinem Sohn vor. Eigentlich, so meint der Junge, interessiere ihn das Thema nicht sonderlich und er würde diese Texte von sich aus wohl nicht lesen. Aber Zuhören, das gefalle ihm. Man greife diesen Hinweis auf und lese einige der Texte laut. Dadurch wird Kluges literarische Technik, das Dokumentarische mit dem Erzählerischen zu verweben, noch besser begreifbar. Es gelingt ihm dann ein ‚Ton‘, in dem das individuelle Motiv der Geschichten aufgehoben wird in einem Chor des Ganzen. Das vermag als eine Art philosophisches Leseerlebnis zu faszinieren.

Das Buch ist in 13 Abschnitte unterteilt. In sechs Abschnitten unterbrechen unkonventionelle Textepisoden von Reinhard Jirgl den Verlauf von Kluges zusammengestellten Einzelmomenten – kurze anregende Irritationen.

Titelbild

Alexander Kluge: 30. April 1945. Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann.
Mit einem Gastbeitrag von Reinhard Jirgl.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
316 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518465882

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