Die Dornenkrone hinter der Brombeerhecke

Brendan Simms erzählt von der Verteidigung des Meierhofs La Haye Sainte in der Schlacht von Waterloo

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schlacht von Waterloo, dieser Inbegriff einer vortechnischen, auf der Karte eindeutigen, im Detail unentwirrbaren kriegerischen Auseinandersetzung, wurde schon oft nacherzählt. Sie wurde verfilmt und literarisiert, nachgespielt von Männern in Kostümen und von Jugendlichen vor Computern, und ja, natürlich, sie wurde besungen von einer schwedischen Popgruppe. Sie ist sprichwörtlich geworden und gehört zur napoleonischen Trias des solide gebildeten Menschen: Jena, Leipzig, Waterloo.

Es ist ja aber auch schön anzusehen! Die leuchtend roten Uniformen der Truppen Wellingtons, die adretten Kürassiere mit ihren glänzenden Harnischen, die heraneilenden Preußen unter dem elefantenschwangeren Blücher – ob Witz oder Wahnsinn des Feldherrn, wer will das entscheiden – und irgendwo in der Ferne der Mann im grauen Mantel und Zweispitz, ein Bein auf eine Kiste gestellt, den Blick durch das Fernrohr auf das Schlachtfeld gerichtet, wie man es von den Gemälden und Filmen kennt. Freilich, 200 Jahre und das in Pulverdampf gehüllte Gewirr sich mordender Männer sorgen für eine Unübersichtlichkeit, die zum panoramatischen Blick auf’s große Ganze einlädt und darüber vergessen macht, welche unsagbaren Grässlichkeiten auf den nahe Brüssel gelegenen Feldern von Waterloo am 18. Juni 1815 geschehen sind.

Brendan Simms, der in Cambridge einen Lehrstuhl für die Geschichte internationaler Beziehungen innehat, hat für sein sehr eindrückliches Buch „Der längste Nachmittag“ diesen Hochsitz des Historikers verlassen. Er bietet nicht noch eine Darstellung der Truppenbewegungen, nicht noch eine Schilderung des Kampfs um Hougoumont, er verliert sich nicht im Nachvollzug taktischer Manöver oder wilder Spekulationen über alternative Ausgänge. Im Gegenteil: Indem er sich auf das von der Geschichtsschreibung sträflich vernachlässigte La Haye Sainte konzentriert, jenes Gehöft im Herzen der alliierten Aufstellung, von dessen Verteidigung die ganze Schlacht abhing, verwandelt er den heroischen Sieg Europas über Napoleon wieder in das unerträgliche Blutbad, das es tatsächlich war.

La Haye Sainte, an der Straße nach Brüssel gelegen und, wie Simms informiert, entweder nach der Dornenkrone Christi oder einer nahen Brombeerhecke benannt, war – und ist noch immer – ein kleiner Meierhof: Wohnhaus, Ställe, Scheune, Obst- und Küchengarten. Hier wurden die 400 grünberockten Soldaten des 2. leichten Bataillons der sich vor allem aus Hannoveranern rekrutierenden Königlich Deutschen Legion (King’s German Legion, KGL) postiert. Die Gebäude befanden sich den alliierten Truppen vorgelagert und in so großer Nähe zu den Franzosen, dass die Wachmannschaft im Obstgarten trotz des regnerischen Wetters kein wärmendes Feuer machen durfte.

Hier setzt Simms‘ Erzählung ein. Gerade erst ist die Schlacht bei Quatre Bras geschlagen worden; die Hannoveraner haben die Gefechte verpasst, sehen aber das von Leichen übersäte Schlachtfeld, auf dem keine der beiden Seiten eindeutig gewonnen oder verloren hat. Vom Regen durchnässt marschieren sie nach Norden, wo man ihnen befiehlt, den Meierhof zu besetzen. Um im Falle einer Attacke schnell reagieren zu können, dürfen sich die Männer nicht einmal in ihre Decken wickeln. Trotz der zentralen Position des Gehöfts innerhalb der Schlachtaufstellung wird das Bataillon nicht mit Munition versorgt – die Männer haben nur die jeweils 60 Schuss, mit denen sie üblicherweise ausgestattet sind. Wellington muss die strategische Bedeutung der Gebäude übersehen haben, sonst hätte er nicht nur die kleine Gruppe des 2. Bataillons dort aufgestellt: Gelänge den Franzosen die Einnahme, wäre der Weg frei, die alliierten Truppen in der Mitte zu teilen und beide Hälften aufzureiben.

Das 2. Bataillon steht unter dem Kommando von Georg Baring, einem Major aus Hannover, der schon seit etlichen Jahren in der Legion dient. Ihm kommt die Aufgabe zu, seine Männer für die Schlacht aufzustellen. Einen Teil von ihnen postiert er im rückwärtigen Küchengarten, um die Verbindung zur Hauptmasse der Armee zu halten; dort wird auch ein Lazarett eingerichtet. Zwei Kompanien werden im Innenhof untergebracht; sie ducken sich hinter Mauern und verbergen sich zwischen Türen und Fenstern. Baring selbst besetzt mit der Hälfte seiner Truppe den Obstgarten, wo nur einige dürre Bäume und eine niedrige Hecke Schutz bieten – das Gelände liegt den französischen Linien direkt gegenüber. Man fragt sich, ob die grünen Uniformen der German Legion an diesem Tag manchem Soldaten das Leben gerettet haben – immerhin dürften sie damit hinter der Hecke weniger sichtbar gewesen sein als im kräftigen britischen Rot.

Um halb zwölf beginnt die Schlacht mit dem Angriff der Franzosen auf das westlich gelegene Hougoumont. Um ein Uhr setzt das französische Artilleriefeuer ein, das in dem welligen, regennassen Gelände seine volle Wirkung jedoch nicht entfalten kann. Eine halbe Stunde später setzen sich 18.000 Mann in Bewegung, um das alliierte Zentrum anzugreifen; im Gehöft sind die Hannoveraner bis dahin vor den Attacken weitgehend sicher gewesen. Nun aber bewegen sich zwei Kolonnen auf den Hof zu – eine auf die Gebäude, die andere Richtung Obstgarten. Baring lässt das Feuer eröffnen, womit der gut fünf Stunden ununterbrochen tobende Kampf um La Haye Sainte beginnt.

Hier verlässt jeden Nachgeborenen die Vorstellungskraft. Mindestens 2.000 Franzosen sollen bei den Kämpfen gefallen sein, berichtet Simms; die Gewehre des 2. Bataillons sind präziser und reichen weiter als die der Franzosen. Immer neue Attacken werden geführt; die Verteidiger erhalten schließlich Unterstützung durch zwei weitere Bataillone. An diesem Punkt des Buchs entfaltet sich Simms‘ ganze Meisterschaft: Indem er nicht nur den allgemeinen Verlauf rekapituliert, sondern ihn mit Einzelschicksalen verwebt, entsteht ein lebhaftes Bild der entsetzlichen Kämpfe. Der Schütze Lindau berichtet, wie er mit einigen Kameraden an einer Schießscharte steht, durch die plötzlich die Franzosen ihre Waffen stecken; dem Kugelhagel entkommt er, nicht aber sein Gewehr, dessen Zündvorrichtung abgeschossen wird. Andere Männer erleiden Durchschüsse durch die Hand oder Streifschüsse am Hinterkopf – und zählen damit zu den Glücklichen, die den Tag überleben. Keiner von ihnen will seinen Major verlassen, um sich versorgen zu lassen; die Loyalität der Truppe ist hoch.

Gegen halb sieben – mittlerweile wurde mehrfach Feuer an das Gehöft gelegt, Barings Männer haben keine Munition mehr und müssen vor der Übermacht der Angreifer zurückweichen, die von den Dächern der Gebäude in den Innenhof feuern – gibt dieser den Befehl, La Haye Sainte zu räumen. Acht Männer bleiben zurück, um mit der Verteidigung des Haupthauses den Rückzug zu sichern. Sie stehen in einem Durchgang, auf den die Franzosen das Feuer konzentrieren; einige werden verwundet, andere gefangengenommen. Leutnant Graeme, der das Kommando an dieser Stelle führt, gelingt die Flucht, indem er sich aus einer Gruppe von fünf Franzosen freikämpft. Fähnrich Frank erhält einen Schuss in die Brust, kann sich aber in einem angrenzenden Raum unter einem Bett verstecken, wo er die nächsten Stunden unbemerkt ausharrt – Verwundete des 2. Bataillons, die in den Betten liegen, werden seinem Bericht zufolge von den eindringenden Gegnern erschossen.

Das Eintreffen der preußischen Truppen unter Blücher bringt die Wende; zwei Bataillone der Nassauer erobern den Meierhof zurück. Baring, dessen Kommando sich aufgelöst hat, da seine verbliebenen Soldaten überall verstreut sind, schließt sich einer Truppe an, die den Franzosen nachsetzt.

168 seiner Männer sind am Ende tot oder verwundet, von den Verlusten der unterstützenden Bataillone ganz zu schweigen. Es ist wohl keine Übertreibung von Simms, wenn er behauptet, es sei im Wesentlichen die Standhaftigkeit des 2. Bataillons gewesen, die an diesem Tag mit La Haye Sainte die ganze Schlachtordnung der Alliierten gehalten habe.

„Der längste Nachmittag“ bietet eine beeindruckend detailreiche Schilderung dieser Geschehnisse. Zugleich zieht Simms die Bilanz aus einer gründlichen Archivrecherche, die viele bisher unberücksichtigte Materialien hervorgebracht hat und die künftige Darstellungen der Schlacht von Waterloo nicht werden übergehen können. Herausgekommen ist damit nicht nur ein sehr lesenswertes, sondern auch ein sehr informatives Buch. Zwar deutet Simms gelegentlich die Dornenkrone der heldenhaften Verteidiger an – er fällt mitunter in den überschwänglichen Tonfall seiner hannoverschen Quellen –, es überwiegt aber klar die schlammige, am Ende von Leichen bedeckte Brombeerhecke des Obstgartens, die erschreckende Präsentation des grausamen Mordens, das an diesem Ort stattgefunden hat. Wer das gelesen hat, wird sich davor hüten, Waterloo zu einem farbenprächtigen, abstrakten Ereignis der zunehmend fernen Geschichte zu reduzieren.

Titelbild

Brendan Simms: Der längste Nachmittag. 400 Deutsche, Napoleon und die Entscheidung von Waterloo.
Übersetzt aus dem Englischen von Wiebke Meier.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
191 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783406670039

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