Odas Geschichte

Julia Jessen erzählt in ihrem Debüt „Alles wird hell“ gekonnt eine Frauenbiografie

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Eröffnungsszene dieses eigenartigen Romans überzeugt: Die kleine Oda läuft bis zum Gartenzaun und von dort weiter zur Straße, bis hierher darf sie, so hat es die Oma gesagt, weiter nicht. „Mach ich“, ruft ihr das Mädchen zu und springt über den Zaun, in Nachbars Garten – gerade weil dieser tabu ist. Voller Neugier wartet das fünfjährige Mädchen, ob etwas passiert, doch es passiert nichts, nur das Kleid hat einen Riss abbekommen. Der Oma wird sie sagen, ein Hund sei daran schuld. Das geht ganz einfach, das Lügen, denn ihre Großmutter kann nichts an ihr entdecken. Und Oda hat ein Geheimnis.

Dieses Geheimnis wird nicht das einzige sein. Odas Leben, dem wir im Roman oft atemlos folgen, ist voller Geheimnisse. Das nächste Mal begegnen wir Oda bei der Hochzeit ihrer Tante Anneke. Die 16-Jährige liebt die Provokation – und Nils, Annekes Mann, zu verführen, wäre gar nicht so schlecht. Oda kennt ihre Möglichkeiten sehr gut, und sie nutzt sie schonungslos aus. Schonungslos ist sie auch sich selbst gegenüber. Als Tänzerin, die sie werden möchte, fordert sie ihrem Körper alles ab; angestachelt wird ihr Ehrgeiz durch eine Lehrerin, „die Gruber“, gegen die sie kämpft. Sie erinnert sich an das fünfjährige Mädchen, das mutig war: „Wäre irgendetwas anders heute. Wenn ich nicht gelaufen wäre? Ich war ein Zauberer damals. Wochenlang war ich geheimnisvoll. Meine ganze Welt war plötzlich geheimnisvoll. Weil ich es war: Ja, alles wäre anders gewesen. Wenn ich nicht gelaufen wäre.“

Im Kampf gegen die Gruber findet Oda den Antrieb zum Tanz, in ihm findet sie den Schlüssel, sich in einer schwierigen Familie durch- und gleichzeitig von ihr abzusetzen. Und dies mit erschreckender Konsequenz, ja Brutalität. Denn ein Kampf gegen die anderen bedingt glasklare Überlegungen und schonungslose Vorgehensweisen. Eine wahre Meisterin wird Oda in diesen Dingen als verheiratete Ehefrau, Mutter und Tanzlehrerin, die entsetzt feststellt, durchaus einiges von der Gruber übernommen zu haben. Oda ist nicht unglücklich, sie ist vielmehr das fünfjährige Mädchen geblieben, das ganz fröhlich zur Oma sagt, „Mach ich!“, um dann über den Zaun zu springen. Als Erwachsene springt sie zu Nils, den sie sich als Sexualpartner ausgewählt hat. Oda möchte ein zweites Kind – ihr Mann Ulf jedoch nicht, weswegen sie wütend auf ihn ist. Sie erläutert Nils bei einem Treffen: „Und wenn ich mit dir schlafe, geht sie weg. Die Wut.“ Erst versucht Nils noch, sie mit der Diagnose „Midlife Crisis“ zu beruhigen, doch mit so etwas lässt sich Oda nicht abspeisen. Sie braucht dann auch nicht viel zu tun, bis Nils auf ihren Pakt eingeht: zusammen schlafen – nicht darüber reden. Odas Reise beginnt. Sie, die die Fäden in den Händen halten will, sie, die grausam gegenüber anderen sein kann, wenn ihr der Sinn danach steht, hat ein weiteres Geheimnis, das ihr die nötige Lebensenergie gibt. Bis Nils stirbt – und sie endlich einwilligt in die Ehe mit Ulf.

Jahre später – Oda ist fast 80 – lebt sie noch immer mit Ulf zusammen, der inzwischen an Krebs erkrankt ist und sich dafür entscheidet, auf weitere Eingriffe zu verzichten. Oda ist ruhig geworden. Jeden Morgen muss sie Kraft sammeln, um aufzustehen. Sie ist neben Ulf, wenn er geht, denn dort ist ihr Platz: „Ich bin durch diese Hecke gegangen, nur um zu dir zu kommen, das weiß ich jetzt. Ich habe einfach keinen anderen Weg gewusst.“

Julia Jessens Debütroman entwickelt vor allem in der ersten Hälfte einen starken Sog. In kurzen stakkatoartigen Sätzen berichtet die Ich-Erzählerin. Beeindruckend wirkt der Mut des kleinen Mädchens, sich über das Verbot der Großmutter hinwegzusetzen, eindrücklich dann vor allem die provokativen Handlungen des Mädchens, mit denen sie sich gegen eine sich in vielem progressiv gebende Familie, die gerade dadurch repressiv wirkt, wehrt. In ihrer Glaubwürdigkeit weniger überzeugend sind die Passagen, in denen Oda sich aus der eher alltäglichen Beziehung mit Ulf – das Paar hat ein gemeinsames Kind – retten will, indem sie den Pakt mit Nils schließt, der letzlich in die Heirat mit Ulf mündet. Unwillkürlich fragt man sich bei der Lektüre, zu welchen Mitteln Oda wohl gegriffen hätte, wenn Nils nicht auf diese Weise aus ihrem Leben entfernt worden wäre. Die Vermutung, dass hier ein Problem gelöst wurde, indem die Autorin eine Figur ihres Romans hat sterben lassen, drängt sich doch auf. Und dass Oda im Zuge von Ulfs Krankheit und Sterben erfährt, welche Bedeutung dieser Mann in ihrem langen Leben hatte, tönt zwar versöhnlich, mehr vermag dieser Schluss jedoch nicht zu bieten.

Titelbild

Julia Jessen: Alles wird hell. Roman.
Verlag Antje Kunstmann, München 2015.
283 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783956140242

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