Ein Buch zu viel

David Foenkinos liefert einen rundum misslungenen Roman über Charlotte Salomon und heimst damit Preise in Frankreich ein

Von Björn BertramsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Björn Bertrams

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leben und Werk der Charlotte Salomon (1917–1943) sind zweifelsohne ein faszinierender Stoff. 1961 gelangte ihr „Leben? oder Theater? Ein Singespiel“ erstmals an die Öffentlichkeit, um dann für mehrere Jahrzehnte fast in Vergessenheit zu geraten. Es ist eine groß angelegte autobiografische Erzählung in Bildern, man könnte auch sagen: ein gemaltes Theaterstück. Denn Charlotte Salomon verwirft sämtliche Kategorien und fügt Malerei, Erzählung, Theater und Musik zu einer unteilbaren Kunst zusammen. In rund 800 Gouachen mit sprechblasenähnlicher Figurenrede, begleitendem Erzählerkommentar und musikalischen Regieanweisungen erzählt sie ihr bedrohtes Leben mitsamt ihrer Familiengeschichte in Wort und Bild. Ein derart ungeahntes großformatiges Kunstwerk einer 26-jährigen Berliner Jüdin von Anfang der 1940er-Jahre erschüttert noch heute, und zwar nicht allein durch seine beachtliche Machart, sondern vor allem durch die künstlerische Selbstbehauptung gegen die tödliche Bedrohung des Holocaust einerseits und die des Familienschicksals andererseits, das von Generation zu Generation den Selbstmord weiterträgt. Nach mehrjährigem Exil in Südfrankreich starb Charlotte Salomon 1943 in Auschwitz; sie war zu diesem Zeitpunkt im fünften Monat schwanger.

In den letzten Jahren erlangte Salomons Werk wieder zunehmend Aufmerksamkeit. Nach Ausstellungen ihrer Gouachen in den Jüdischen Museen von Berlin und Frankfurt am Main und auf der documenta 2012 ziehen nun zahlreiche Museen nach. Derzeit sind sie im Museum der Moderne Salzburg zu sehen. Auch in der Literatur und in angrenzenden Kunstmedien nahm man sich ihrer Geschichte an: Gisela von Wysocki schrieb 2003 für den Bayerischen Rundfunk ein „akustisches Szenario über Charlotte Salomon“. Weitere Hörspielbearbeitungen und Musiktheateradaptionen folgten, wobei letztere Salomons Regieanweisungen ernst nehmen und ihr Werk gewissermaßen musikalisch zu vervollständigen suchen. So verständlich die Anregung solch produktiver Rezeptionen von „Leben? oder Theater?“ ist, so besteht doch immer die Gefahr, dass das nachträgliche Werk hinter Salomons Kunstfertigkeit allzu schroff abfällt. Dem monolithischen Œuvre Salomons ist künstlerisch kaum etwas hinzuzufügen.

Der erste, der sich an ihrem Werk jedoch vergriff, war der kulturkonservative Schriftsteller Richard Millet. Für Luc Bondy und die Salzburger Festspiele verfasste er 2013 ein Libretto über sie. Mit dieser Auftragsarbeit konnte er in gewisser Weise auf Rehabilitation hoffen, denn im Jahr zuvor hatte sich Millet mit tendenziös-polemischen Essays diskreditiert, in welchen er einen Untergang der französischen Hochkultur in Zusammenhang mit den zunehmenden Einwanderungen und der Multikulturalisierung Frankreichs brachte. In Salzburg wurde sein „literarischer Lobgesang auf Anders Breivik“ mit Verzögerung wahrgenommen. Dann allerdings sah man sich nach jemand anderem um und engagierte Barbara Honigmann für das Libretto. Im vergangenen Jahr wurde die Opernadaption von „Leben? oder Theater?“ auf Grundlage ihres Textes uraufgeführt.

Der zweite ist nun David Foenkinos, bekannt als umsatzstarker Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine eher seichten Liebesromane verkauften sich in Frankreich immer besser. Sein Programm: „Man muss, koste es, was es wolle, die Dinge ins Positive drehen.“ Ganz schön radikal. Für seinen neuen Roman „Charlotte“ musste er eine besondere Erzählweise finden, so viel war ihm klar. Er wählt eine augenfällige Abweichung von gängigen Erzählformen, indem er einen strikten Zeilenstil verfolgt; manch einer sieht darin freie Verse, wenngleich Foenkinos jegliche poetische Ambition völlig abgeht. Dem Drang, ein Werk über Charlotte Salomon zu schreiben, konnte er schriftstellerisch nur schwer Herr werden. An einer Stelle im Roman beschreibt er dies: „Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier. / Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken. / Es ging einfach nicht weiter. / Das war körperlich beklemmend. / Ich verspürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen. / Um durchatmen zu können. // Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genau so schreiben musste.“

Seine Leser sollen auch durchatmen dürfen nach jeder Zeile, um die traurige Lebensgeschichte Charlotte Salomons leichter verdauen zu können. Zeit zum Nachdenken bietet der Leerraum auf den Seiten des Romans also. Nur bieten Foenkinos’ Sätze keine Tiefendimension, die Reflexionen anzuregen vermöchte. Die typografische Leere spiegelt vielmehr die Einfallsarmut des Autors angesichts des herausragenden Kunstwerks Charlotte Salomons, dessen sich zu bemächtigen er nicht abzuhalten ist. Die Schlichtheit seiner Sätze könnte vielleicht verglichen werden mit denen eines Comics – wo sie ja aber in der Regel uneigenständig als Narrationshilfe fungieren. Insofern Salomons „Leben? oder Theater?“ als eine frühe Variante des Comics aufgefasst werden kann, gleicht sich Foenkinos’ Sprache diesem Genre an. Doch zu welchem Zweck die bereits kunstvoll verarbeitete Lebensgeschichte in einer Romanadaption runterkochen auf einfache Aussagesätze? Wozu die drei Vermittlungskanäle (Bild, Text, Musik) reduzieren auf den einen (Text)? Ein ästhetischer Gewinn ergibt sich daraus nicht. Ein inhaltlicher genauso wenig.

Zwar verarbeitet Foenkinos durch Recherche zusammengetragene biografische Informationen und füllt damit einige Leerstellen, die „Leben? oder Theater?“ hinterlässt, vor allem die von der Verfolgung beherrschte Nachgeschichte Charlotte Salomons. Doch hier krankt der Roman am Plausibilisierungswillen des Autors. So werden interessante Ambivalenzen, die in Salomons Werk in den Beziehungen der Charaktere zu Tage treten, von Foenkinos ignoriert oder übermalt. Das Liebesverhältnis zwischen Salomon und dem Gesangslehrer Alfred Wolfsohn etwa nimmt in „Leben? oder Theater?“ oft groteske Züge an und ist keineswegs leicht durchschaubar. Wolfsohns sexuelle Annäherungen werden dort zunächst als Bedrohung dargestellt. Generell wird jene Figur als wahnhafter, mitunter hinterlistiger Charakter gezeichnet, dessen Beschreibung in Salomons Bildergeschichte viel Raum einnimmt. Foenkinos macht daraus – Tradition verpflichtet – eine seichte, belächelbare Jugendliebe. Und wo ihm zu dieser verflachenden Plausibilisierung biografische Daten fehlen, fiktionalisiert er, ohne jedoch – im Unterschied zu Salomon – die Klarnamen der historisch verbürgten Figuren aufzugeben. So wird alles schön glatt.

Foenkinos scheint uns überzeugen zu wollen, dass er dem ernsten Thema und der historischen Aufarbeitung intellektuell durchaus gewachsen ist, indem er ab und an gewichtige Autorennamen fallen lässt (Walter Benjamin, Aby Warburg), teils mit daran gehefteten Aussprüchen, die im gedankenlosen Raum von Foenkinos’ Prosa zu harmlosen Poesiealbumsprüchen verkommen. Die Begeisterung für Künstler und Autoren, die er nicht sinnvoll zu verarbeiten im Stande ist, mag man ihm verzeihen. Wo er sich aber mit Metaphern behilft, die einen Sachverhalt verbal pervertieren, ist Nachsicht fehl am Platz. Die kontemplative Vereinnahmung, die das Werk Charlotte Salomons bei ihm auslöste, zu beschreiben mit: „Ein seltenes Gefühl von totaler Überwältigung. / Ich stand unter fremder Besatzung“, entbehrt jeglicher Vernunft – und das Vergehen ist hier nicht dem Übersetzer anzulasten! Ähnliche literarische Fehltritte finden sich im Roman mehrfach.

Foenkinos’ Roman ist die unwillkürliche Dokumentation eines literarischen Scheiterns auf ganzer Linie. Dem französischen Publikum – und zum Teil auch den Feuilletons – gefiel das. Eine halbe Million Exemplare von „Charlotte“ wurde im Erscheinungsjahr in Frankreich verkauft. Die kritischsten Stimmen der französischen Literaturkritik unterstellten Foenkinos, er wolle sich mit diesem ‚schweren Stoff‘ den Rang eines schwergewichtigen Autors einkaufen. Andere lobten den Roman als beachtenswerte Hommage an die deutsch-jüdische Künstlerin. Ein solches Lob stand wohl auch hinter der Preisvergabe des Prix Renaudot und des Prix Goncourt des Lycéens an Foenkinos. Der wichtigste französische Literaturpreis, der Prix Goncourt ist knapp an ihm vorbeigegangen, nachdem der Schriftstellerkollege Éric Chevillard die Jury unter Aufwendung drastischer Fäkalmetaphorik vor der Vergabe an Foenkinos gewarnt hatte.

Der Verlag C. H. Beck, der bislang Foenkinos’ Romane in deutscher Übersetzung veröffentlichte, überließ die deutsche Ausgabe von „Charlotte“ der DVA. Die allerdings nimmt sie blindlings als Toptitel in ihr diesjähriges Herbstprogramm auf und lässt sich beim Werbebudjet nicht lumpen („Wir werben in Die Zeit, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine, Für Sie, Freundin und Brigitte Woman“). Fraglich ist, ob die breite Aufmerksamkeit, die David Foenkinos nun zukommt, sich nicht eigentlich auf Charlotte Salomon und ihr außerordentliches Werk bezieht. Für Auszeichnungen ist es da nur leider zu spät.

Das Amsterdamer Joods Historisch Museum hat mittlerweile Salomons „Leben? oder Theater?“ in Gänze digitalisiert und zur Online-Einsicht  bereitgestellt. Eine gut kommentierte Print-Ausgabe, die es übrigens einmal gab, kann dieses Angebot allerdings nicht ersetzen. Dennoch: Über kurz oder lang bekommt Charlotte Salomon ihren Platz in der Kunstgeschichte wie Anne Frank ihn in der Literaturgeschichte hat. – Und wer ist nochmal dieser David Foenkinos? Ach, egal.

Titelbild

David Foenkinos: Charlotte. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christian Kolb.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
237 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047083

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