Literarisch Europa erkunden
Thomas Geigers Anthologie „Luftsprünge“
Von Heike Henderson
Besprochene Bücher / Literaturhinweise36 bekannte und unbekannte Autoren berichten im von Thomas Geiger herausgegebenen Buch „Luftsprünge“ in Erzählungen, Gedichten, Romanauszügen und Essays vom gegenwärtigen Leben in ihren europäischen Heimatländern. Die Idee klingt vielversprechend, die Geiger, langjähriger Redakteur und Programmkurator des Literarischen Colloquiums in Berlin, in dieser Anthologie umgesetzt hat. Die meisten versammelten Texte sind zwar leider keine Erstveröffentlichungen, dürften aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, trotzdem für die Mehrheit der Leser unbekannt sein.
Wie viele Anthologien, so ist auch diese qualitativ sehr gemischt. Nicht alle Texte sind leicht zugänglich; politische und ironische Geschichten stehen neben persönlichen Erinnerungen, experimentellen Texten und sperrigen Beiträgen, die Irritation und Befremden auslösen. Erfreulich wäre eine längere Einleitung gewesen, welche die zentralen Themen herausgearbeitet und die Texte besser kontextualisiert hätte. Außerdem hätte diese plausibel machen können, warum bestimmte Texte für die Anthologie ausgewählt wurden.
Trotz des Überschwang und Freude assoziierenden Titels sind die meisten versammelten Texte, alphabetisch geordnet nach Herkunftsland von „A“ wie „Albanien“ bis „W“ wie „Weißrussland“, sehr bodenständig. Die Auswirkungen der Politik auf das Leben der Menschen werden – besonders bei den Autoren aus den konflikt- und krisengeschüttelten Ländern Europas – sichtbar. Schmerz überschattet Freude und verleitet weniger zu Luftsprüngen als zum genauen Hinsehen und Beschreiben dessen, was in den vielen Ländern und Regionen, die Europa ausmachen, passiert.
Die Auswirkungen des Balkankrieges werden in den Texten der Serbin Dragana Mladenović – das überaus clevere, entlarvende Verhörprotokoll „familienname: žurić“ – und der Kroatin Ivana Bodrožić – ein Auszug ihres Romans „Hotel Nirgendwo“ – thematisiert.
Janne Tellers „Sich so in den Hüften wiegend und die Augen zu Boden gerichtet“ (Dänemark) ist eine brillante, eindringliche und zugleich humorvolle Auseinandersetzung mit kulturellen Stereotypen, die in keinem Schulbuch fehlen sollte. Einem ähnlichen Thema widmet sich der experimentellere Text „Der Knall“ des estnischen Autors Jan Kaus. Die albanische Autorin Luljeta Lleshanaku vermittelt in ihrem langen Prosagedicht „Montag in fünf Tagen“ das Lebensgefühl und den historischen Kontext ihres Heimatlandes.
Weitere stilistische und thematische Höhepunkte sind die Bildgeschichten des tschechischen Autorenduos Jaroslav Rudiš and Jaromír 99 – „Alois Nebel. Leben nach Fahrplan“ –, Zsófia Báns „Eine Kiste mit Fotografien (auf die Rückseite geschrieben)“ (Ungarn) und Swetlana Alexijewitschs dokumentarischer Roman „Aus Straßenlärm und Küchengesprächen“ (Weißrussland).
In der Anthologie vertreten sind auch einige bekannte Autoren: Der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk mit seiner Reflektion „Bosporusdampfer“, die Österreicherin Eva Menasse mit einem Auszug aus ihrem zu Recht hochgelobten Roman „Quasikristalle“, die im heutigen Serbien geborene und in der Schweiz lebende Autorin Melinda Nadj Abonji mit einem Ausschnitt aus ihrem vielfältig ausgezeichneten Roman „Tauben fliegen auf“, der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago mit einem Ausschnitt aus seinem ursprünglich 1994 erschienenen Text „Die portugiesische Reise“, und der umstrittene und viel diskutierte französische Autor Michel Houellebecq mit einem Auszug aus seinem Roman „Karte und Gebiet“.
Zwar wecken nicht alle Texte der Anthologie Lust auf’s Weiterlesen – aber vielleicht ist das ja auch zu viel verlangt. Neues zu entdecken gibt es darin allemal, und die Spannbreite der versammelten Länder, Themen und Genres vermittelt einen angemessenen Eindruck der vielschichtigen Bedeutungen des historischen, geographischen und individuell erlebten Konstrukts Europa. Viele der in dieser Sammlung vertretenen Autoren sind in mehreren Ländern zu Hause – auch das ist wohl durchaus typisch für das Leben in Europa im 21. Jahrhundert. Die von Politikern oft beschworenen vereinigten Staaten von Europa, das wird bei der Lektüre dieses Buches offensichtlich, sind so nicht existent. Das Besondere an Europa sind gerade die Widersprüche und Ungereimtheiten, die unterschiedlichen Lebenserfahrungen und die kulturelle Vielfalt seiner Bewohner.
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