Zwischen Gesellschaftskritik und Instrumentalisierung

„Die Kunst der Rezeption“ sammelt Aufsätze über die Zuschauer-Partizipation

Von Andreas HudelistRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Hudelist

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aus der Tagung „Die Kunst der Rezeption“ an der Universität Zürich im Jahr 2013 ging die gleichnamige Publikation hervor, die 17 Vorträge vereint. Vier Aufsätze davon sind in englischer Sprache verfasst. In ihrer Einleitung erklären Marc Caduff, Stefanie Heine und Michael Steiner, worauf der Fokus des Sammelbandes gelegt wurde: auf den aktiven Charakter der Rezeption. Oftmals geschieht die Einbeziehung der Partizipierenden jedoch ohne die Einwilligung derselben: Sie müssen teilnehmen, ob sie wollen oder nicht.

Am Beispiel der Künstlerin Graciela Carnevale beschreiben die Herausgeber in ihrer Einleitung eine doppelte Gewalt, die durch die Partizipation entsteht. Zum einen werden die Menschen, die eine Ausstellung der Künstlerin besuchen, in einem Raum eingesperrt. Zum anderen wird ihnen eine Rezeption durch das Eingesperrt-Sein didaktisch aufgezwungen. Daraus leiten die Herausgeber des Bandes folgende Fragen ab: Wenn die Rezeption Teil des Kunstwerkes ist, wie konstituiert sich dann ein Werk? Kann man noch von aktiver Teilnahme sprechen, wenn die Teilnahme beziehungsweise die Partizipation erzwungen und dadurch das Rezeptionsverhalten gelenkt wird?

Und genau diesen Fragen stellt sich der erste Beitrag des Sammelbandes „Perform Spectatorship or Else …“ von Constanze Schellow. Sie beschreibt eine Performance von Eva Meyer-Keller, die beim Festival Hors Pistes im Centre Pompidou unter dem Namen „Death is Certain“ im Jahr 2013 aufgeführt wurde. „Death is Certain ist verschiedentlich als exemplarisch für das in der Tanz- und Theaterwissenschaft einflussreich gewordene Konzept einer ‚Politik der Vorstellung‘ benannt worden, die im Kern auf die Vorstellung […] als wesentlich in der Vorstellung […] des Zuschauers sich realisierendes Ereignis abzielt.“ In dieser Vorstellung ‚tötet‘ Meyer-Keller 40 Süßkirschen auf unterschiedliche Arten auf einem mit einem weißen Leintuch bedeckten Tisch. Im Fokus diskutiert Schellow die voyeuristische Teilnahme des Publikums, das die Performance durch ihre Rezeption erst entstehen lässt. Dabei bewegt sie stets die Frage, was die Performance ausmacht. Außerdem spürt sie nach, inwiefern man hier von einem emanzipierten Publikum sprechen kann, wenn im Vorhinein dessen Rolle bereits festgelegt wurde.

In seinem Beitrag „Was genau geht vor bei den Theaterzuschauern?“ widmet sich Michael Steiner der Rezeptionsbesonderheit bei Theateraufführungen. So diskutiert er den Partizipationsbegriff, der ein partizipierendes Mitmachen umfasst und sich von einem bloßen Mobilisieren stark unterscheidet, häufig jedoch beides meint. Außerdem kritisiert er, wie bereits seine Vorgängerin, das emanzipatorische Potenzial der Zuschauenden. Die Dichotomie aktiv-passiv sei nie so gewesen, wie sie häufig im gegenwärtigen Diskurs besprochen wird: „Ein Kunstwerk, das die ‚intellektuelle Emanzipation‘ des Zuschauers ernst nimmt, sollte im Gegenzug auf der singulären ästhetischen Erfahrung eines jeden einzelnen Zuschauers bauen […]“. In seinem Aufsatz setzt sich der Autor mit der Theaterinstallation „Dein Reich komme“ des Performance-Künstlers Dries Verhoeven auseinander und sieht darin Jacques Rancières zuschauende Übersetzer bestätigt, da hier die Aufführung als eine dritte Sache vorgestellt werde und die Rezeptionserfahrung der Zuschauer unterschiedlich sei.

Den Bereich der Performance und des Theaters verlässt Sabine Zubarik in „Kein Normalzustand“. In ihrem Text diskutiert sie „simultane Materialanordnungen in zeitgenössischen Romanen“. Anhand von Romanen von Mark Z. Danielewski und Sven Age Madsen zeigt sie, welche Strategien verwendet werden, um lineare Erzählstrukturen zu durchbrechen und gegen das allgemeine Verständnis vom Erzählen, Ereignisse nicht hintereinander, sondern als Möglichkeiten nebeneinander zu setzen. Zubarik kommt zum Schluss, dass die besprochenen Romane eine Rezeptionsvarietät erzwingen. Es wird ein Weltmodell bedient, das einem Multiversum oder der many-worlds-Interpretation folgt. Erst durch die Lektüre wird ein bestimmter Zustand hergestellt, „einen unter vielen, aber einen, über den sich, jeweils momentan und punktuell, etwas aussagen lässt“.

Ein anderes Medium, nämlich das Radio, beschäftigt Bettina Wodianka. Auch sie beschreibt, dass die Art und Weise, wie ein Hörspiel gehört wird, von der Rezipientin beziehungsweise vom Rezipienten abhängt. Am Beispiel von Mauricio Kagls „Nah und Fern“ und Paul Plampers „RUHE 1“ diskutiert sie die hörende Teilnahme. Die Rezipierenden müssen Tonbänder in der Inszenierung eines Cafés manuell vor- und zurückspulen. „Dadurch wird die Rezeption als Ab-Hörsituation und der Vorgang des Abhörens als zu hörendes Moment selbst zum künstlerischen Konzept des Hörspiels und der Zuhörer Zeuge der Ereignisse.“ Die Installation erwacht also erst zum Leben, wenn die Besucherinnen und Besucher tätig werden. Die Rolle der Hörerinnen und Hörer wird also aktiv mitgedacht, jedoch scheint die Rezeption oftmals problematisch zu sein, da niemand die Geduld aufbringt, den Rezipierenden das kreative Potenzial zu erklären.

Im letzten Beitrag des Bandes geht Michael Wetzel dem Verhältnis von Autor und Rezipient nach. Dabei betont er, dass es nicht nur um die Position der Autorschaft allein gehe: „Es geht um die Frage der Kreativität überhaupt, um die Rolle und die Rechte der Produzenten im Zusammenhang von Genesis und Geltung von Kunstwerken, also auch um die Stellung des Künstlers und darüber hinaus um den Wert geistiger Originalität, Innovation, Leistung von Subjektivität im Allgemeinen.“ Die Position der Autorschaft soll hier als vermittelnde oder arrangierende Instanz verstanden werden. Die Sinngestaltung obliegt letztendlich den Rezipierenden; Rezeption bleibt damit im Vorhinein unberechenbar. Dieser Mangel, dass eben die Bedeutung nicht schon zeitlich vor dem Prozess der Rezeption fixiert werden kann, ist – frei nach Marcel Duchamp – die eigentliche schöpferische Kreativität eines jeden Kunstwerkes, die es erst zu dem macht, was es ist.

Der kurze Blick auf ausgewählte Beiträge soll exemplarisch für eine Auseinandersetzung stehen, die sich wie ein roter Faden durch den Band „Die Kunst der Rezeption“ zieht. Dabei wird deutlich, dass bei der Diskussion um das Autor-Zuschauer-Verhältnis noch lange nicht das letzte Wort gesagt beziehungsweise geschrieben wurde. Im Gegenteil, die Texte laden zu einer vertiefenden Auseinandersetzung ein, bei der deutlich wird, dass die Instanz der Autorschaft weder tot ist, noch neugeboren wird. Das Verhältnis ist komplexer und wird im Sammelband explizit an Beispielen ergründet. Gefordert wird dabei aber ein transparenter und nachvollziehbarer Umgang mit den Rezipierenden. Interaktion ist nicht möglich, wenn aus einem vorgegebenen Set Zuschauer auswählen können, sondern wenn diese selbständig, sofern sie es wünschen, ohne Anleitung und Hilfe von anderen in das Geschehen eingreifen wollen. „Die Kunst der Rezeption“ bilanziert also mit Nachdruck, die Rolle der Zuschauerinstanz erneut zu überdenken, da zu vorschnell das gesellschaftskritische Potenzial von partizipativer Kunst gelobt, jedoch die Instrumentalisierung der Besucherinnen und Besucher für die Kunstgenese – und damit eine Bekräftigung neoliberaler Strukturen innerhalb einer scheinbaren Kritik – ignoriert wird. Der Band ist bemerkenswert, da er unterschiedliche Positionen innerhalb der Diskussion um das Autor-Zuschauer-Verhältnis bespricht und somit die Diskussion um die Rezeption bereichert.

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Marc Caduff / Stefanie Heine / Michael Steiner (Hg.): Die Kunst der Rezeption.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2015.
274 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849810696

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