Freiheit oder Freiheit?

Jean-Claude Michéa lotet in seiner Aufsatzsammlung „Das Reich des kleineren Übels“ die Bedingungen der Möglichkeit eines echten Liberalismus aus

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haben Sie auch manchmal das Gefühl, Freiheit und Freiheit seien noch lange nicht dasselbe? Nein, ich meine diesmal nicht Ihre und die der anderen, sondern zwei Arten von Freiheit, die einander in der politisch-kulturellen Diskussion als Ideale gegenüberstehen. Zwei Liberalismen gewissermaßen, die nicht zusammenfinden wollen, obwohl sie doch beide dasselbe wollen: dem Menschen die Möglichkeit zur Entfaltung seiner eigenen Fähigkeiten und Lebensweise geben. Die eine Freiheit, der eine Liberalismus, ist der, den wir mit den Begriffen „linksliberal“, „linksalternativ“ und „progressiv“ beschreiben – ein kultureller Liberalismus der Toleranz und Offenheit, eine 68er-Idee von Emanzipation und individueller Selbstbestimmung. Diese Art von Liberalismus, entstanden als überfällige Revolte gegen überkommene Traditionen, restriktive Gesellschaften und politische Totalitarismen, hat seine Lehre aus der Geschichte gezogen, und manchen unter denjenigen, die an ihm teilhaben dürfen, ist sein Segen mit der Zeit so selbstverständlich geworden, dass sie sich immer wieder vergegenwärtigen sollten, wie mühsam er errungen wurde, wie labil er als Zustand und wie wie bedroht er als Prozess überall auf der Welt ist.

Von seinen Gegnern wird dieser kulturelle Liberalismus freilich als „linksgrün-versifft“, „politisch korrekt“, seine Auswüchse als Gender Mainstreaming, Zerstörung der Familie und wertevergessen gebrandmarkt. Er wird für mangelnde Identifikation mit der angestammten Tradition und Kultur und manchmal auch gleich für den Untergang des Abendlandes verantwortlich gemacht.

Aber dieser Widerspruchsgeist ist ja seinerseits selber Folge liberalen Denkens, und es ist nicht der schlechteste Ausweis des großen Wertes des Liberalismus, dass er seine eigene Selbstkritik erst ermöglicht. Gleichwohl wird der kulturelle Liberalismus in der öffentlichen Diskussion im Grunde genommen aber als alternativlos angesehen. Linksliberalismus ist Mainstream. Ganz anders hingegen die Form der Freiheit, die vom anderen, manche sagen: bösen Liberalismus gefordert wird. Eine Freiheit der Märkte, die paradoxerweise von Rechten und Konservativen gefordert werden soll. Dieser ökonomische Liberalismus, mit der Vorsilbe „neo“ als Kampfbegriff gebraucht, propagiert die Freiheit der Märkte, eine laissez-faire-Politik, die in den Augen seiner Gegner schnurstracks zu großen gesellschaftlichen Verwerfungen, zu Ungleichheit und Unfreiheit und schließlich zu einer ungezügelten Herrschaft der Reichen und Starken über die Armen und Schwachen führe. Auch die Vorsilben „Raubtier“ und „Turbo“ sind hier schnell zur Hand.

Zwei Freiheiten, zwei Liberalismen also, die kaum zusammengehen – und das ist mehr als paradox. Wer eine kulturelle Freiheit fordert und damit verlangt, dass der Staat sich aus der Lebensgestaltung der Menschen heraushalte (also zum Beispiel Homosexuellen nicht verbiete, zu heiraten), der möchte auf der anderen Seite nur zu gerne in die Lebensgestaltung von Unternehmern, Managern, Besitzenden, kurz: von „Kapitalisten“ eingreifen – der Zweck der gesellschaftlichen Gleichheit heiligt hier nun eben die Mittel. Als bestünde „der Markt“ nicht vor allem aus Menschen.

Auf der anderen Seite sind Befürworter von Steuererleichterungen und Privatisierung nicht selten Gegner einer zu progressiven Familienpolitik. Dabei wird man konstatieren müssen, dass im Verlauf der Entwicklung zur modernen Gesellschaft sich das eine aus dem anderen entwickelt hat. Die ideologische Henne-oder-Ei-Frage ist nur: Was aus wem? Hat die ökonomische Befreiung im 19. Jahrhundert eine geistige Freiheit mit sich gebracht, die dann endlich ihren Nutzen auch für Gesellschaft und Individuum zeitigten, oder haben mentale Emanzipationsbewegungen zu seiner Liberalisierung von Handel und Wandel im Ausgang der Beschreibung der Märkte geführt? Waren es erst Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant, oder Adam Smith und Jean Baptiste Say?

Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa beschreibt in seiner kleinen Aufsatzsammlung „Das Reich des kleineren Übels. Über liberale Gesellschaft“ den Liberalismus als moderne Ideologie par excellence. Aus der langen Tradition des Utopismus heraus habe sich ein Denken entwickelt, das der (zuweilen) gutgemeinten „Tyrannei des Guten“ eine negative Politik gegenüberstelle: eine Politik, die sich auf die reine Bereitstellung der technischen Möglichkeiten für freie Unternehmung der Individuen verlegt und keinen Sonnenstaat errichten oder die Philosophen zu Königen machen, sondern bloß die am wenigsten schlechte Gesellschaft, das titelgebende „Reich des kleineren Übels“ ermöglichen will.

Linkes Denken, so Michéa, sehe die Liberalisierung der Sitten stets als unabhängig von der des Marktes. Er jedoch hält dagegen, dass beides nur Hand in Hand gehen könne. Die Frage nach 1789 sei gewesen, wie sich eine moderne Gesellschaftsordnung etablieren lasse, die vor dem größten aller Übel schütze. Dieses Fortschrittsideal als Projekt der Moderne sei daher weniger von der Suche nach einem irdischen Paradies geprägt als – und das paradoxerweise eben zum großen Glück des Einzelnen – von der Suche nach einem rein negativen Zustand, nämlich dem der Abwesenheit vom größtmöglichen Übel: Krieg und Bürgerkrieg. Freiheit, so die Vorstellung, ist die einzige Voraussetzung für ein gelingendes Leben, die ein Staat zu besorgen hat, der, wenn es ihn schon geben muss, wenigstens weltanschaulich neutral bleiben soll. Er darf den Menschen keine Auffassung vom guten Leben aufzwingen, keine „Menschheitsbeglückungsmaschine“ sein. Gewissermaßen als liberales, geradezu libertäres Axiom stellt Michéa fest:

In einer liberalen Gesellschaft steht es demnach dem Einzelnen frei, den Lebensstil zu verfolgen, den er mit seiner Vorstellung von Pflicht und Glück am besten für vereinbar hält, mit der einzigen Einschränkung natürlich, dass seine Entscheidungen nicht die entsprechende Freiheit der anderen beeinträchtigen dürfen.

Daraus leitet sich nach Michéa der Primat vom Gerechten über das Gute her: Der Staat ist der gerechteste, der „nicht denkt“, also jeglicher Ideologie entsagt. Denn er überlässt es den Individuuen, über ihr eigenes Leben zu entscheiden.

Michéas Buch ist, trotz seiner einleuchtenden Argumentation, nicht frei von Missverständlichkeiten, unklarer Begrifflichkeit und logischen Fehlern, die er oft in Fußnoten und Anmerkungstexten versteckt. Auch vor Floskeln und Allerweltsurteilen macht er nicht halt, was vielleicht der Anlage des Buches als Aufsatzsammlung geschuldet ist, ebenso wie die fehlende Eindeutigkeit in der Aussage, die allerdings im Vergleich zu allzu vorschnell und kategorisch urteilenden Traktaten auch wohltuend sein kann. Im titelgebenden Essay fragt sich Michéa beispielsweise, ob das Reich des kleineren Übels nicht notwendigerweise zu einer „Schönen Neuen Welt“ führen müsse, in der die Kapitalisten, einfach aus kapitalistischer Logik heraus, den Neuen Menschen formen müssen, damit dieser in Konsum- und Arbeitsverhalten ihren Interessen diene. Im globalisierten Kapitalismus, so Michéa, müssten schließlich immer neue Bedürfnisse erfunden werden, der Mensch dürfe also nie zufrieden sein, wenn das System nicht zugrunde gehen soll. Welche Berechtigung käme dem Liberalismus dann noch zu? Eine eindeutige Stellungnahme zu dieser Problematik und auch zur darin sich äußernden Kritik am Liberalismus ist dem Autor nicht zu entlocken.

Bereits mit Kant stand ja schon das Grundproblem des Liberalismus vor Augen: der Mensch selber. Je nach Menschenbild könnte man versucht sein, ihm Freiheit und Selbstbestimmung, wenigstens zu gewissen Graden, abzusprechen – nur zu seinem Besten natürlich. Denn wer den Menschen in erster Linie als egoistisch und eine freie Gesellschaft als „ein Volk von Teufeln“ beschreibt, wie kann der die Abwesenheit von initiierendem Zwang weiterhin befürworten? Ferner: Wie kann man dem Menschen freie Entscheidung über seine Lebensumstände gewähren, wenn er selber nur von Neid, Ressentiment, Gier und kurzfristigen Neigungen beherrscht ist?

Michéa stellt sich diesem Grundproblem, in dem er die eingangs aufgeworfene Dichotomie von kultureller und ökonomischer Freiheit wieder zuschaufelt. Im Grund nämlich sind sie kein Gegensatz, selbst und vor allem wenn man den Menschen als von Eigeninteresse getrieben ansieht. Denn je eigennutzorientierter (vulgo: egoistisch) die Menschen sind desto mehr sind sie auch an freiem Handel interessiert, und je freier ihr Handel ist, desto höher ist der Nutzen für die Gesellschaft. Schließlich, so kann man konstatieren, werden in einer absolut freien Gesellschaft zwei Parteien (Menschen, Unternehmen et cetera) miteinander nur einen Vertrag eingehen, wenn sie sich selber einen Nutzen davon versprechen – und beide davon profitieren. Der eine mag diese von unsichtbarer Hand hergestellte gesamtgesellschaftliche Nutzenmaximierung aus Eigeninteresse heraus als paradox und widersprüchlich bezeichnen, dem anderen mag sie logisch vorkommen: Michéa bezeichnet sie ganz richtig als Ursache dafür, dass ökonomische Freiheit geradezu Voraussetzung wird für die Bedingungen einer kulturliberalen Gesellschaft.

Mit dem französischen Ökonomen Frédéric Bastiat folgert Michéa, „dass nämlich die freie und unverfälschte Konkurrenz automatisch ein uneingeschränktes Wachstum bewirkt und das uneingeschränkte Wachstum folglich ebenso automatisch zufolge hat, die leidenden Klassen auf zweierlei Art zu heben: zunächst gibt sie ihnen billigen Lebensunterhalt, dann hebt sie die Löhne. Wenn sich das Los der Arbeiter so natürlich und doppelt verbessert, muss sich notwendig auch ihre moralische Verfassung heben und reinigen.“ Gesellschaftliche Prosperität schützt vor niederen Instinkten wie Neid und Gier.

Wer sich tatsächlich fragt, wo dieses uneingeschränkte Wachstum sowie die Verbesserung der Arbeiter bleibt, möge sich fragen, wo und unter welchen Umständen wir selbst in westlichen Industrieländern wirklich freie, kapitalistische Systeme haben – und auf die Lebenssituation der Menschen in den Ländern sehen, deren Wirtschaften noch viel weniger kapitalistisch sind. Die Furcht vor einem Volk von Teufeln ist nach Michéa und Bastiat in einer freien Gesellschaft unberechtigt, solange sie auch ökonomisch und nicht bloß kulturell frei ist.

Titelbild

Jean-Claude Michea: Das Reich des kleineren Übels. Über die liberale Gesellschaft.
Übersetzt aus dem Französischen von Nicola Denis.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2014.
190 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957570154

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