Pseudointellektuelle Verführungsmuster

Stefan Gärtners Debütroman „Putins Weiber“ kann nicht überzeugen

Von Daniel KasselmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Kasselmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da schickt der abgeklärte Enddreißiger Waldemar, genannt Putin, sein Weibchen Vera mal für ein paar Tage auf eine Tagung, und als sie wiederkommt, beichtet sie ihm, dass sie das Tagungsthema „Liebe als Weg“ mal eben mit irgendeinem dahergelaufenen Habilitanden praktisch exerziert hat. Obwohl Waldemar-Putin ihr den Seitensprung nachsehen will, findet sie, dass dieser sicherlich etwas zu bedeuten habe und sie darüber jetzt erst einmal nachdenken müsse. Sie zieht deshalb zu einer Freundin nach Berlin – Putin solle sich in der Zeit mal austoben, er habe ja sowieso etwas gut. Putin heult sich anschließend bei seinem Freund und Ex-Kommilitonen Georg aus. Im fortgeschrittenen Stadium alkoholischer Tröstung setzt der ihm den Floh ins Ohr, er könne doch zur Ablenkung bei einer der drei Ex-Kommilitoninnen auf den Busch klopfen.

Und so macht Putin sich auf den Weg und wehe der Frau, die ihm vor die Flinte läuft und bei drei noch nicht auf dem Baum ist! Zuerst versucht er es bei Mareike. Die ist inzwischen Psychotherapeutin, woraufhin er sich bei ihr zunächst als Patient einmogelt. Das ergibt dramaturgisch deshalb Sinn, weil er selbst in diesem ersten Therapiegespräch sein eigentliches Problem zur Sprache bringt:

Ich bin hier, weil ich nicht weiß, warum ich hier bin. Ich tue Dinge, ich lasse Dinge, und ich weiß nicht mehr, warum ich sie tue oder warum ich sie lasse. Kann sein, dass ich das nie gewusst habe und daß es mir, als ich jung war, egal gewesen ist. Denn wenn man jung ist, kann man das, was man läßt, noch machen, und das, was man macht, noch lassen. […] Mir ist beides immer schwergefallen. Erst ist mir das Tun schwergefallen, weil ich dachte, wenn du es tust, dann wird das Konsequenzen haben, und welche, das kannst du nicht wissen. Aber mit dem Lassen bin ich auch nicht zurechtgekommen, weil dann die Frage war: Warum tust du’s nicht? Es ist bestimmt ein Riesenfehler, es nicht zu tun, und wenn du es tust, hört wenigstens das Nachdenken darüber auf, ob es nun gut ist, es zu tun, oder besser, es nicht zu tun. Mein ganzes Leben lang hab ich Dinge nicht lassen können ohne Not und ich habe Dinge nicht tun können ohne Not. 

Tun oder nicht tun ist also frei nach Shakespeare die höchst existenzielle Frage, die Putin umtreibt. Derweil hockt Vera in Berlin und wird sich allmählich über den Grund ihres Nichtzauderns klar. Sie verstand, „daß ihr Leben an Vorläufigkeit verlor und an Absehbarkeit gewann; und jetzt hatte sie, nicht ohne Mutwillen, diese Vorläufigkeit wieder hergestellt und mußte, hilflos, zusehen, wie diese Vorläufigkeit schwand und zu einem Zustand wurde. Und längst geworden war. Ich bekomme Zustände, dachte Vera. Man will ein Leben und was man bekommt, sind Zustände.“

Veras Wunsch, dass das Leben ein frei flottierender ‚Unzustand‘ endloser Vorläufigkeiten sei, könnte allerdings gut Teil des Psychogramms der „Generation Golf“ sein, deren konsumistische Sozialstruktur Florian Illies in seinem gleichnamigen Buch skizziert hat. Doch leider wird dieses Thema in Stefan Gärtners Roman nicht weiter ausgeführt. Nur noch einmal kurz vor Schluss schwenkt die Kamera erneut zu Vera nach Berlin, ansonsten verweilt sie beim Charmeur Putin und seinen Flirt-Eskapaden. Das könnte sich lesen wie Henry Miller oder Charles Bukowski, doch das ‚Gärtner-Latein‘ schreibt vor, dass die Lust nur heimlich, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, stattfinden darf. Deshalb wird der Leser jeweils nur Zeuge eines immer wieder thematisch variierenden, pseudointellektuellen Verführungsmusters mit Hirnpenetrationsattitüde: Bevor es endlich ins Bett geht, wird züchtig das literarische Licht ausgeknipst. Natürlich kann man der Meinung sein, dass es nach dem gesammelten Vulgärdreck einer Charlotte Roche nun mal endlich wieder Zeit ist, es artig und unheimlich unausgesprochen angehen zu lassen. Diese freiwillige Selbstreduzierung auf die Balz des intellektuellen Verführers Putin würde funktionieren, wenn die Diskurse den Leser herausforderten, doch leider haben diese oft zu wenig Tiefgang.

Der Autor Stefan Gärtner war von 1999 bis 2009 Redakteur der „Titanic“, und man darf vermuten, dass sein Debütroman eine bitterböse Persiflage auf die Geist- und Lieblosigkeit der „Generation Golf“ ist. Der Antiheld Putin entpuppt sich nämlich im Nachhinein schon beim zweiten Sex-Versuch als Rohrkrepierer – eine Szene, die durchaus Charme, Witz und Esprit hat. Dabei unterläuft ihm zusätzlich ein unheimlich dummer Fehler, der ihn bei seinem dritten Versuch als Weiberheld auf- und in hohem Bogen aus dem Schlafzimmer hinausfliegen lässt. Die Verkettung von Fehler und Zufall ist hier zwar stark konstruiert, wäre darum aber nicht weniger herrlich in ihrer Wirkung, wenn sie direkt erzählt würde. Doch Gärtner beschreibt dies alles nur indirekt und andeutungsweise im Rückblick, so dass man sich selbst das Gesamtbild zusammenfügen muss. Wenn man sich schließlich versteht, was sich genau abgespielt hat, ist einem über das mühsame Zusammenpuzzeln das Lachen bereits vergangen.

Gärtner macht es dem Leser wirklich nicht leicht, seinen Protagonisten zu mögen und der Romanhandlung zu folgen. Als Putin einmal wieder seinen Freund Georg besucht, sitzen die beiden draußen und schauen in die heraufdämmernde Nacht. Der Anblick des Nachthimmels bringt Putin gedanklich über die farbliche Assoziation eines Duschvorhangs und eine damit verbundene gemeinsame Erinnerung auf Vera: „Er denkt den Namen, als schreibe er ihn hin. Und der Kummer, der wie ein kleiner Hund im Körbchen schläft, wacht auf und schaut recht fragend hoch, kratzt sich, rollt sich wieder ein. Man hört ihn in der Stille leise schnaufen.“ Das ist ein plastisches, eindrucksvolles und hochpoetisches Bild und es stimmt alles daran: Wortwahl, Rhythmus, Duktus, Tempo. Gärtners Roman könnte große Literatur sein.

Warum verhält sich aber Putin, dem wir also durchaus tiefe Emotionen zutrauen dürfen, weitgehend wie ein Bukowski aus Bielefeld? Warum überhaupt Bielefeld, denn das ist die Stadt, in die Putin, der vorher in Frankfurt lebte, nach seiner Trennung von Vera zog. Seine neue Hausgemeinschaft ist eine Mischung aus Berliner Wohngemeinschaft für betreutes Trinken und Spießerkabinett; Putins Landungsversuche bei der jungen Evelyn – die normalste der Mitbewohner – enden immer wieder im Nichts.

Die Frage ist, wer da überhaupt erzählt, pendelt doch die Perspektive kontinuierlich zwischen auktorialem Erzähler und einem Ich-Erzähler, der im Schreiben gerade ganz am Anfang steht und von einem mysteriösen Herrn Dr. Raimund, der irgendein bedeutender Akteur in der Verlagswelt ist, in seinen literarischen Schreibversuchen unterstützt wird.

Am Ende ist über ein Jahr vergangen, als sich Vera in Berlin auf einen rein freundschaftlichen Besuch Putins vorbereitet, während dieser sich auf der Zugreise in die Hauptstadt ebenfalls mulmigen Gedanken über das bevorstehende Wiedersehen hingibt. Noch bevor Vera ihn im ersten Kapitel mit ihrer Untreuebeichte konfrontiert, proklamiert der auktoriale Erzähler das Credo der Liebe für die beiden:

Sie beide sind erwachsen und nicht auf den Kopf gefallen und wissen, dass Liebe Glut, nicht Feuer ist und daß, ganz wie bei Putins sommerlichen Bemühungen mit dem Holzkohlegrill ins Benehmen zu kommen, die Kombination aus Technik, Hunger, Zufall und Zähigkeit fürs Gelingen sorgt; aber der Anteil Zufall allein ist Grund genug, nicht wie ein Ingenieur von etwas zu sprechen, was doch mehr ist als bloß die Summe seiner Teile.

Im Gewand einer Zutatenliste der Liebe jubelt der Autor einem hier tatsächlich die Arbeitshypothese seines ‚Gärtner-Lateins‘ unter: Liebe als Summe aus Libido und Testosteron bildet im Roman die Grundlage für das Psychogramm einer liebesunfähigen Generation, die sich – wie im Falle von Vera – nicht damit abfinden will, dass es sich bei der Liebe um einen auf den Zustand langfristigen Glücks ausgerichteten Prozess handelt, und eben nicht um die Vorläufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Von metaphysischer Tiefe keine Spur.

Titelbild

Stefan Gärtner: Putins Weiber. Roman.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
288 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871347832

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