Im Zeitalter der Wiederholung

Das finale Wochenende: Elftes Festival des deutschen Films

Von Jacqueline ThörRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jacqueline Thör

Die Leiche im Kofferraum. Der Auftragskiller, der nur tötet, um Frau und Kind ernähren zu können. Der Kommissar, der ein dunkles Geheimnis hat. Der Arzt, der mit der Krankenschwester fremdgeht. Korrupte Polizisten. Korrupte Politiker. Korruptes Bauunternehmen. Zwei Feinde, die sich am Ende des Films verbünden, um gemeinsam gegen den größeren Feind anzukämpfen. Bösewichte, die Schwarz tragen. Die Sozialhilfeempfängerin im Leoprint. Jemand wird aus einem Hochhaus geworfen und landet auf einem Auto.

Fast alles, was man auf dem Festival des deutschen Films zu sehen bekommt, ist einem bereits bekannt. Klischees. Stereotypen. Voraussehbare Handlungsentwicklungen. Gewöhnliche Filmgestaltungen. Oft muss eine Figur an Krebs erkranken (zum Beispiel in Nachspielzeit, Die Ratte, Der Fall Bruckner). Und dann ein Krimi nach dem anderen. Das Festival des deutschen Films = das Festival des deutschen Krimis? Kann die Branche wirklich nicht mehr als Krimi? Und kann sie nur Krimi, weil dieser immer und immer wieder nach dem gleichen Handlungsschema abläuft? Der Preis für Schauspielkunst geht dann an Mario Adorf. Selbstverständlich. Ein Gesicht, an das sich die Deutschen mittlerweile gewöhnt haben. Ebenso wie an den Tatort. Warum sollte man den Nachwuchs fördern, wenn man weiter am Altbewährten festhalten kann? Wo bleibt die Kreativität? Wo die Innovation?

Selbstverständlich wird in der heutigen Medienwelt alles wiederholt, was irgendwie gut beim Publikum ankommt, sei es ein rührendes Thema, ein spannender Handlungsaufbau oder eine Filmfigur, die ‚everybody’s darling‘ zu sein verspricht: In jedem Film und in jeder Serie gibt es Indizien dafür, dass wir uns im „Zeitalter der Wiederholung“ (nach Umberto Eco) befinden. Allerdings belegen viele Filme und Fernsehproduktionen, die auf dem Festival des deutschen Films gezeigt werden (zum Beispiel Unter Verdacht – Betongold, Nachspielzeit, Tatort: Hinter dem Spiegel oder Der Fall Bruckner), dass die Praxis der Wiederholung immer mehr den ursprünglichen Zweck der Emotionalisierung verfehlt. Die Leiche im Kofferraum ist nun mal nicht mehr originell. Man kann einige Stereotypen, Wiederholungen von Handlungsmustern, Bezüge auf bekannte Bilder und Genrekonventionen einfach nicht mehr ernst nehmen. Ein Bild, das uns einst überrascht, aufgewühlt oder beeindruckt hat, wird durch die Praxis der Wiederholung irgendwann zum bloßen Wink mit dem Zaunpfahl. Wenn man sich an Stereotypen und Mustern bedienen muss, dann sollte man versuchen eine gewisse Souveränität gegenüber der Vorlage zu erlangen.

Dabei sieht man doch gerade jetzt, dass es auch anders geht. Dass der deutsche Film auch mal kein Krimi sein kann. Und dass der deutsche Film sich durchaus innovativer Gestaltungsmittel bedienen kann. Der Spielfilm Victoria (Thriller/Drama, 2015) des deutschen Regisseurs Sebastian Schipper, der derzeit wegen seiner außergewöhnlichen filmischen Umsetzung im Feuilleton bejubelt und auf dem Festival des deutschen Films in diesem Jahr leider übergangen wird, beweist, dass man in der deutschen Filmbranche auch demonstrativ Differenzen zu Mustern schaffen kann. Gleich zwei Merkmale des Films sind ungewöhnlich: Zum einen besteht der Film aus einer einzigen 140-minütigen Plansequenz, zum anderen sind die Dialoge der Figuren weitgehend improvisiert. Das Ergebnis: Authentizität, Spannung und Unmittelbarkeit. Husmann, Redakteur bei der ZEIT, ist der Meinung, dass Victoria ein Film sei, der das deutsche Kino nachhaltig durchrütteln werde.

Aber auch einige Kurzfilme des GIRL-GO-MOVIE-Filmfestivals – kleine Lichtblicke, die auf dem Festival des deutschen Films gezeigt werden –  bestätigen, dass es sowohl neue Ideen als auch NachwuchsfilmemacherInnen gibt, die sich trauen, auch mal experimenteller an das Medium Film heranzutreten. Der Film Pressefreiheit von Clara Freudenberg und Isabel A. Thorweihe, welcher in der Alterskategorie 12-17 Jahre den mit 200 Euro dotierten zweiten Platz belegte, ist eine Art Stummfilm: Die beiden ProtagonistInnen, die zwei Krisenreporterinnen darstellen, sprechen den ganzen Film über kein Wort. Auf eine kreative Weise wird so ein politisch relevantes Thema – die Zensur der Presse – im Medium Film umgesetzt.

Eine andere Möglichkeit wäre eine reflektierte, produktive und kritische Anwendung der Stereotype, so wie sie beispielsweise der Regisseur Laurent Négre in seiner Politsatire Confusion nutzt. Durch die Überspitzung von Klischees, die sich hier sowohl auf das Thema Politik als auch auf das Genre des Dokumentarfilms beziehen – von den Sexfotos als Erpressungsmittel über die korrupten chinesischen Politiker bis hin zum trotteligen Assistenten –, führt Confusion einen spöttisch karikierenden Diskurs über die Stereotyp- und Klischeewelt. Insofern ist er einer der wenigen Filme auf dem Festival, die sich reflexiv zu der Reproduktion von Filmmustern positionieren.

Liebes Festival des deutschen Films, im nächsten Jahr bitte mehr solcher ‚Durchrüttelungen‘ wie Victoria, bitte weniger Klischeekrimis und einen größeren Fokus auf die deutschen NachwuchsregisseurInnen. So gelängen vielleicht auch mehr Lichtblicke.

Confusion von Laurent Négre (2014)
Der Fall Bruckner von Urs Egger (2014)
Die Ratte von Anja Gurres (2015)
Nachspielzeit von Andreas Pieper (2014)
Pressefreiheit von Clara Freudenberg und Isabel A. Thorweihe (2015)
Tatort: Hinter dem Spiegel von Sebastian Marka (2015)
Unter Verdacht – Betongold von Ulrich Zrenner (2015)
Victoria von Sebastian Schipper (2015)

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Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen