Eine gut geheizte Hölle

Hermann Hesses Briefe aus den Krisenjahren 1916 bis 1923

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein deutschsprachiger Autor hat in seinem Leben mehr Briefe geschrieben als Hermann Hesse. Was zu einem Gutteil an seinen Lesern lag, die Hesses Prosatexte nicht in erster Linie als Kunstwerke, sondern als literarische Lebenshilfe verstanden und den Autor um Rat in persönlichsten Dingen fragten. Dabei gab Hesse selbst keine Lösungen vor, sondern suchte vielmehr die eigenen Krisen literarisch zu bewältigen, oder sich ihrer wenigstens mit Hilfe der poetischen Form bewusst zu werden. Er korrespondierte nicht nur mit seinen Lesern, sondern auch mit Freunden, Mäzenen und Kollegen wie Stefan Zweig und Gerhart Hauptmann. Der vorliegende Band ist der dritte einer Auswahlreihe, die Volker Michels seit 2012 herausgibt, und der die Krisenjahre 1916 bis 1923 abdeckt, in denen Hesses bisherige Existenz zusammenbricht und sich sein Schreiben fundamental wandelt.

Um den Umbruch besser zu verstehen, sei kurz rekapituliert, was bis dahin geschieht: 1877 wird Hesse im schwäbischen Calw in eine pietistische Missionarsfamilie hineingeboren, in einem Landstrich, der wegen seiner Frömmigkeit im Volksmund bis heute „Pietcong“ heißt. Getriezt von strenggläubigen Eltern und einem rigiden Schulsystem, antwortet der heranwachsende Hesse mit einer langen Phase zwischen offener Rebellion und Selbstmordfantasien. Diese kommt zu einem vorläufigen Ende, als Hesse 1895 eine Buchhändlerlehre in Tübingen beginnt, mehr und mehr eigene Texte veröffentlicht und 1904 seinen ersten Roman Peter Camenzind publiziert. Dieser wird zum Bestseller, legt den Grundstein für eine Karriere zum Erfolgsautor und erlaubt ihm nebenbei, die neun Jahre ältere Basler Patriziertochter Maria Bernoulli, die erste Berufsfotografin der Schweiz, zu heiraten. Die Eheleute lassen sich in Gaienhofen am Bodensee nieder, die Söhne Bruno, Heiner und Martin kommen zur Welt, Hesse produziert wie am Fließband Romane, Erzählungen, Feuilletontexte und Essays, die der Familie keinen Reichtum, aber ein solides Auskommen garantieren. Nicht alles aus dieser Produktion ist durchschnittlich – die Schullektüre Unterm Rad, der Ehe- und Künstleroman Roßhalde und eine Reihe der Erzählungen aus „Gerbersau“, einem fiktionalisierten Calw, bleiben bis heute lesenswert. Vieles ist allerdings konventionell. Hesse sieht seine Produktion bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs als die eines „beliebten Unterhaltungsliteraten“, wie er 1920 in einem Brief an Lisa Wenger schreibt. Mit Recht. Hätte Hesse 1915 zu schreiben aufgehört, man würde sich an ihn heute so gut erinnern wie an andere deutsch schreibende Nobelpreisträger vor ihm – etwa Paul Heyse, Carl Spitteler und Rudolf Eucken. Bitte an wen? Genau.

Es sind gerade die Jahre, die der neue Briefband abdeckt, in denen sich Hesse wandelt, aus einem mehr oder weniger talentierten Literaten zu dem Autor heranreift, mit dessen Massenauflagen Suhrkamp bis heute anspruchsvolle Gegenwartsautoren querfinanziert. Hesses Dichtung durchläuft eine radikale Wandlung. Das geschieht nicht freiwillig, sondern aufgrund einer tiefen Lebenskrise, in der Hesses bürgerliche Existenz in sich zusammenbricht. Teils unter äußerem Druck, teils, weil sie sich als Scheinlösung für die früheren Konflikte entpuppt, die nun mit voller Gewalt durchbrechen.

Zu Beginn des Ersten Weltkrieges meldet sich Hesse noch freiwillig, wandelt sich aber bald zum Kriegsgegner. Gegenüber Romain Rolland bekennt er: „Auch ‚Europa‘ ist mir kein Ideal – solange Menschen einander töten unter Führung Europas, ist mir jede Einteilung der Menschen verdächtig. Ich glaube […] nur an die Menschheit, nur an das Reich der Seele auf Erden, an dem alle Völker teilhaben und dessen edelste Verkörperungen wir Asien verdanken.“ Immer wieder befristet für untauglich erklärt, leitet Hesse in Bern, wo er seit 1912 lebt, gemeinsam mit dem Zoologen Richard Woltereck einen Bücherdienst, der deutsche Kriegsgefangene im Ausland mit Lektüre versorgt. Hier setzt der vorliegende Band ein: Hesse wird von nationalistischen Kreisen in Deutschland angefeindet. Der Vater, mit dem ihn noch immer eine problematische Beziehung verbindet, stirbt Anfang 1916. Der Sohn Martin erkrankt an einer schweren Hirnhautentzündung, die Ehe mit Maria Bernoulli bricht endgültig auseinander. Bei Hesse führt die Situation zu schweren Depressionen bis hin zum Selbstmordversuch mittels Opium, bei seiner Frau zu schweren psychotischen Schüben, wegen denen sie über Jahre hinweg in Nervenheilanstalten eingeliefert wird. Auch eine politische Rolle in der Weimarer Republik, zu der der schwäbische Politiker Conrad Haußmann ihn auffordert, lehnt er ab. „Seit 1914 arbeitet in unsrem guten Deutschland kein Mensch mehr das, was er kann und soll und wozu Gott ihn geschaffen hat. […] Und seit der Revolution […] arbeitet erst recht niemand mehr, und Arbeiter, Gelehrte und Dichter sind damit beschäftigt, ihren Nachbarn Vernunft und Politik zu predigen“, schreibt er 1919 an Ludwig Finckh, einen Kollegen und Freund aus Tübinger Jugendtagen.

Hesse sucht sich zu befreien, indem er eine solitäre Künstlerexistenz im Tessin beginnt, im Dorf Montagnola, das bis zu seinem Tod 1962 sein Lebensmittelpunkt bleiben wird. Neben der Scheidung und der Versorgung, ja Abschiebung der Kinder plagen ihn finanzielle Sorgen: In der Schweiz verdient er nicht viel, die deutschen Tantiemen sprudeln reicher, sind aber aufgrund der Inflation im Tessin nichts mehr wert. Vom Verkauf des Hauses am Bodensee kann er ungefähr dreimal essen gehen. Zugleich versucht er von Anfang an, einen Sinn in seinem Leiden zu finden. 1919 räsoniert er in einem Brief an den Freund Walter Schädelin: „Das Schicksal preßt mich, und meine Aufgabe dabei ist lediglich, meinen Wein herzugeben. Er fließt nicht immer gern, und die Wandlung der Welt und meines Lebens äußert sich auch in ganz neuen Forderungen meines Denkens und meiner Dichtung, denen meine bisherigen Mittel nicht mehr gewachsen sind“.

In der zweiten Hälfte des Briefbandes zeichnet sich ein Neuanfang in der Beziehung mit Ruth Wenger ab, der 20 Jahre jüngeren Tochter eines Fabrikanten und einer Schriftstellerin. Aber auch dieser Neuanfang steht unter keinem guten Stern. Die Eltern seiner Freundin drängen Hesse zu einer neuen Heirat, der er von Anfang an skeptisch gegenübersteht, und für die er sich immerhin in die Schweiz einbürgern lässt. Dass seine Skepsis berechtigt ist und auch diese Ehe scheitern wird, ist aber nicht mehr Gegenstand des Bandes.

Wer sich bereits mit Hesses Biographie beschäftigt hat, ist mit diesen Stationen vertraut. Die hier versammelten Briefe machen sie anschaulich und lassen sie plastisch hervortreten. Im Einzelnen ist vieles schon publiziert, etwa aus den Briefwechseln mit Ruth Wenger, mit seinem Analytiker Josef Bernhard Lang, dem Kollegen Hugo Ball und seiner Frau Emmy Ball-Hennings, mit Conrad Haußmann. Aber die hier von Volker Michels edierten Briefe, die nur einen Bruchteil von Hesses damaliger Korrespondenz umfassen, entwerfen, um es paradox zu sagen, ein konzentriertes Panorama seines Lebens. Sie sind, was bei diesem Autor wenig überrascht, eher Bekenntnisse als sprachliche Kunstwerke. Wer Hesse Schlichtheit vorwerfen will, findet hier mehr als genug Handhabe. Dagegen lässt sich einwenden: Diese Briefe sind der Versuch, radikal aufrichtig zu schreiben. Ob sie sich an Geschwister, Freunde, Mäzene oder ihm persönlich völlig unbekannte Leser richten, macht dabei nur graduelle Unterschiede. In diesem unbedingten Bekenntnisethos und der Suche nach einem höheren, quasi-göttlichen Sinn ist Hesse indirekt doch wieder dem Geist genau jenes Pietismus verpflichtet, den er eigentlich hinter sich lassen möchte.

Diese Zeitspanne, die Hesse im Brief an Ludwig Finckh eine „gut geheizte Hölle“ nennt, ist es aber auch, in der er sein Schreiben radikal revidiert. Nicht mehr die Idylle, die atmosphärische Beschreibung der süddeutschen Kleinstadtwelt steht im Mittelpunkt, sondern die unbedingte Suche nach Erkenntnis. Seine Helden resignieren nicht mehr in ihrer Herkunft wie Peter Camenzind, der Titelheld des Erstlings, der nach allerlei Abenteuern in der großen weiten Welt ins heimatliche Bergdorf Nimikon zurückkehrt. Entweder sie gelangen zum Durchbruch, wie Siddharta und Emil Sinclair, Protagonist und angeblicher Autor des Demian (das Pseudonym hatte Hesse ursprünglich gewählt, weil die deutschen Behörden ihm jegliche politische Publizistik verboten hatten), sie gehen an ihrer Exzessivität zu Grunde wie die Hauptfigur der Künstlererzählung Klingsors letzter Sommer oder, weil sie, wie in der Novelle Klein und Wagner, ihre innere Dunkelheit doch nicht überwinden können.

Was im Frühwerk dominiert, Beschreibungen von Jahreszeiten und Landschaft, tritt besonders in Demian und Siddhartha zurück und wird zur bloßen Kulisse, die Protagonisten werden noch stärker als früher zu Jedermann-Figuren, an denen exemplarisch etwas aufgezeigt werden soll. Mit diesen Texten schreibt Hesse sich an die Avantgarde seiner Zeit, an Psychoanalyse und Expressionismus heran, bleibt dabei aber insgesamt zugänglicher, verdaulicher. Wo James Joyce fast gleichzeitig Dublin bis ins Detail rekonstruiert, wo Alfred Döblin pulsierendes Berliner Großstadtleben festhält, sind seine „Großstädte“ eben doch nur Basel und Zürich. Trotzdem: Mit diesen Entwicklungen legt Hesse den Grundstein zu seiner globalen Attraktivität. Mag man ihn in Deutschland auch noch heute als Jugendautor abtun, den man – heißt man nicht gerade Udo Lindenberg – jenseits der 18 tunlichst nicht mehr lesen sollte, in anderen Kulturen wie Russland oder Korea ist seine Popularität bis heute ungebrochen.

Hesses Erfolgsgeheimnis dürfte in seinen paradox angelegten Hauptfiguren bestehen, wie sie die Werke seit Demian dominieren: Einerseits sind sie so vage gehalten, dass sie dem Leser die Identifikation leicht machen. Andererseits vermitteln sie ihm in milde dosierter Nietzsche-Rezeption genau jenes Gefühl von Exklusivität, die ihm suggeriert, dass er sich von jener Masse der modernen Menschen fundamental unterscheide, der er doch eigentlich angehört, einfach weil er ebenso den Modernisierungsprozessen unterworfen ist. Hesses Identifikation mit den Figuren geht so weit, dass er seinem Analytiker Lang 1920 bekennt: „Am liebsten gäbe ich jedes neue Werk unter einem Pseudonym heraus. Ich bin ja nicht Hesse, sondern war Sinclair, war Klingsor, war Klein etc. und werde noch manches sein.“ Gleichzeitig gewinnen die Figuren etwas Exemplarisches – und das erstaunlich unabhängig vom spezifischen kulturellen Hintergrund des Lesers. Einerseits sind gerade die Werke von Demian bis zum Steppenwolf in ihren literarischen Verfahren Bestandteil der Klassischen Moderne, andererseits lehnen sie sich gegen die gesellschaftliche Modernisierung auf. Selbst wo die Moderne letztlich bejaht wird wie am Ende des Steppenwolf, geschieht es zähneknirschend, als etwas eingedampfte Version von Friedrich Nietzsches amor fati.

Wenn Hesses literarische Werke in dieser Rezension eines Briefbandes einen so breiten Raum einnehmen, dann weil Briefe und literarische Produktion eng aufeinander bezogen sind. Die Korrespondenz des Schriftstellers erhellt den biographischen Boden, auf dem die Texte entstehen, während die literarischen Arbeiten noch stärker als bisher als Reflexion eines krisenhaften Lebens erscheinen. Beide wurzeln in einem unbedingten Streben nach Aufrichtigkeit – gegenüber sich und anderen. Idealerweise liest man ohnehin beides parallel. In einer Hinsicht hat diese Briefausgabe allerdings einen zwiespältigen Charakter: Sie richtet sie sich an Leser, die sich schon länger und genauer mit Hesse beschäftigen. Als Heranführung an seine Biographie ist sie ungeeignet, dafür sind die Erläuterungen zu spärlich, wird zu viel Wissen vorausgesetzt. Spezialisten, zumal Forscher, werden dagegen lieber zu den Einzelbriefwechseln greifen, zumal dort der Dialog mit den Briefpartnern nachzulesen ist, nicht nur der Monolog des einen. Wer erst mit diesem Band die Lektüre beginnt, kann sich bei den Erläuterungen auch noch ärgern, dass beim kurzen biographischen Abriss der Adressaten einfach auf die beiden vorhergehenden Bände (zu den Jahren 1881 bis 1904 und 1905 bis 1915) verwiesen wird, die, zugegeben, ebenso lesenswert sind. Auf Hesses Position innerhalb der Literatur seiner Zeit – nämlich als Autor zwischen der „Neuromantik“ des Frühwerks und der Klassischen Moderne – geht Volker Michels in seinem Nachwort gar nicht erst ein. Diese Kritik ändert nichts daran, dass dieser Briefband für den interessierten Hesse-Leser ein großer Gewinn ist. Eine faszinierende Lektüre.

Titelbild

Hermann Hesse: »Eine Bresche ins Dunkel der Zeit!«. Die Briefe. Band 3: 1916-1923.
Herausgegeben von Volker Michels.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
669 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424582

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch