Reisen und davon erzählen
Reiseberichte und Reiseliteratur in der Literaturwissenschaft
Von Sandra Vlasta
Der Reisebericht stellt eines der ältesten Genres der (Literatur-)Geschichtsschreibung dar. Diese Feststellung ist unabhängig davon zutreffend, welche der sehr unterschiedlichen Verständnisse von ‚Reisebericht’ man ihr zugrunde legt: in einer engeren Definition als Bericht über eine tatsächlich stattgefundene Reise (wie Georg Forsters „A Voyage round the World“, 1777/ „Reise um die Welt“, 1. Band 1778, 2. Band 1780) oder, in einem weiteren Sinne, als Bericht über eine Reise, egal ob diese unternommen oder erfunden wurde (wie in Lawrence Sternes „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“, 1759-1767) oder, noch weiter gefasst, als jede Beschreibung, die einer Reise entspricht oder entsprechen könnte, auch in einem metaphorischen Sinn (wie z.B. Jules Vernes „Voyage au centre de la terre“, 1864/ „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, 1873, aber auch z.B. Bildungsromane, deren Protagonisten eine metaphorische Reise zum aufgeklärten Ich durchleben).
Selbst wenn man Reiseberichte nur im ersten, engeren Sinne versteht, so ist die Forschungsliteratur zum Gegenstand mittlerweile nahezu unüberschaubar geworden. Reisekultur und Reiseliteratur werden seit den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum intensiv beforscht, was Peter Brenner bereits 1990 mit seinem sehr umfangreichen „Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte“dargelegt hat. Dort, wie auch in dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Der Reisebericht“ stellt er jedoch fest: „Auch wenn die Zahl von Forschungsbeiträgen inzwischen fast schon bedenkliche Ausmaße angenommen hat, lässt sich von einer ‚Reiseliteraturforschung‘ im strengen Sinne des Wortes nicht sprechen.“[1] Er meint damit vor allem, dass sich trotz der vielen Publikationen zum Thema kein „systematischer Diskussionszusammenhang entfalten“[2] konnte, weil viele der Einzelarbeiten sich auf einen bestimmten Zeitraum (das 18. Jahrhundert) konzentrieren, aus zahlreichen Fallstudien bestehen oder rein deskriptiven Charakter haben, indem sie ausschließlich Fakten zu Autoren, Texten und zur Geschichte des Reisen versammeln.[3] Was Brenner als Forschungsdesiderat nennt und 1989 in Form eines monographischen Sammelbandes erstmals in Angriff nimmt, nämlich „eine Geschichte des Reiseberichts“[4], freilich für den deutschsprachigen Kulturraum, ist auch mehr als 25 Jahre später noch eine Lücke in der Reiseliteraturforschung, die erst ansatzweise geschlossen werden konnte.
Im englischsprachigen Raum wurde travel writing von der Literaturwissenschaft lange Zeit kaum Beachtung geschenkt, vielleicht aus Ablehnung gegen die allgemeine Popularität des Genres[5] oder als Reaktion auf das schlechte Ansehen, das die Gattung bei (zeitgenössischen) SchriftstellerInnen hat, die sich nur ungern als travel writers bezeichnet sehen.[6] Die wissenschaftliche Beschäftigung mit travel writing konnte sich in der anglophonen Literaturwissenschaft erst seit den 1980er Jahren etablieren, ein wichtiger Impuls dafür war Edward Saids „Orientalism“, ein Werk, das die Verbindung von Reisen, Repräsentation und Imperium/Macht deutlich machte und den Anstoß für entsprechende Studien gab, allerdings auch dazu führte, dass travel writing stärker aus historisch/kulturwissenschaftlicher Perspektive untersucht und das ganze Genre (zu Unrecht) als eher konservativ wahrgenommen wurde. Auch im englischsprachigen Raum fehlten lange Zeit systematische Studien (eine Ausnahme bildet Korte)[7]; erst in jüngster Zeit wurden erste Überblicksarbeiten zum Genre des Reiseberichts bzw. zum travel writing, wie es in den entsprechenden Publikationen meist heißt, vorgelegt.[8] Das Genre hat damit mittlerweile auch die Höhen akademischer Forschung erreicht, Ausdruck dafür sind neben zahlreichen Publikationen die Zeitschriften „Studies in Travel Writing“ (gegründet 1997) und „Journeys: The International Journal of Travel and Travel Writing“ (gegründet 2000) sowie das „Centre for Travel Writing Studies“ an der Nottingham Trent University.
Die möglichen Gründe für das Fehlen einer systematischen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Gattung sind zahlreich. So wurden und werden Reiseberichte von verschiedenen Wissenschaften (Geschichtswissenschaften, Ethnologie, bis zu einem gewissen Grad Kulturwissenschaften) als historische Quellen herangezogen, die Aufschluss z.B. über bestimmte geographische Gebiete und deren BewohnerInnen geben. Sie werden dabei ungeachtet ihrer textlichen Verfasstheit als faktische Dokumente behandelt, die sachliche Auskunft geben können; ihre formalen sowie ihre möglichen literarischen und ästhetischen Qualitäten werden dabei nicht oder kaum beachtet. Letztere wurden dem Reisebericht in der Folge gar abgesprochen und dies selbst von literaturwissenschaftlicher Seite: So wurde (und wird) Reiseliteratur oft eher zur Illustration von AutorInnenbiographien herangezogen anstatt sie als eigenständige literarische Texte zu lesen. Erst in jüngerer Zeit hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass Reiseberichte ebenso Teil des Œuvres eines/einer AutorIn sind und sich deshalb in gleicher Weise für eine Bearbeitung mit einem literaturwissenschaftlichen Ansatz eignen.[9] Dennoch stellt die Frage der Literarizität und demnach des ‚literarischen Werts‘ von Reiseberichten auch nach der Öffnung des Textbegriffs in den Philologien anscheinend immer noch ein Hindernis für deren Etablierung als literaturwissenschaftlicher Gegenstand auf breiterer Basis dar, zumal im deutschsprachigen Raum. Fragen der Fiktion vs. der Faktizität und der Authentizität von Reiseberichten sowie der historische Wandel der Gattung haben zudem gattungstheoretische Arbeiten zum Thema scheinbar eher behindert als provoziert.
Einige der Schwerpunkte in der Reise- bzw. Reiseliteraturforschung in den letzten 25 Jahren waren von biographischen Zugängen geprägt, in dem Sinn, dass die Texte bestimmter Modi und Gruppen von Reisenden untersucht wurden. So schenkte man den zu Fuß Reisenden Aufmerksamkeit, den reisenden Adligen bzw. Eliten sowie dem aufkommenden Bürgertum auf der Grand Tour durch Europa und untersuchte die Reisen und Berichte weiblicher ReiseautorInnen. Bei den untersuchten Reiseländern steht Italien an einsamer Spitze, sowohl was die Untersuchung englisch- als auch deutschsprachiger Reisender betrifft. Gut repräsentiert sind auch die Reiseziele Frankreich und England. Neben diesen Regionen beschäftigt sich die Forschung mit außereuropäischen Destinationen, die vor allem im Kontext postkolonialer und interkultureller Theorien von Interesse sind bzw. mit imagologischen (oder: interkulturell hermeneutischen) Zugängen untersucht werden, wie z.B. Afrika, der indische Subkontinent oder die Südsee. Dass sich für einen interkulturellen literaturwissenschaftlichen Zugang auch Berichte von innereuropäischen Reisen eignen, wurde in einigen Studien gezeigt.
Komparatistische Studien zum Reisebericht sind rar und nur punktuell festzustellen. Werner Nell legt eine genuin komparatistische Studie zu deutsch- und französischsprachigen Reiseberichten von Montaigne über Forster und Goethe bis Nerval vor.[10] Sein Interesse am Reisebericht ist dahingehend gerichtet, wie das Fremde in diesen Texten konstruiert und reflektiert wird. Attilio Brilli bezieht in seinem Band zur Grand Tour zwar Reiseberichte deutsch-, englisch- und französischsprachiger Reisender ein, die Zitate aus den Texten dienen hier allerdings eher zur Illustration der bzw. als Quelle für die kulturgeschichtliche Darstellung der Grand Tour und sind nicht der Fokus der Analyse.[11] Andere Bände können als komparatistisch nur insofern eingestuft werden, als sie die Arbeiten von VertreterInnen verschiedener Einzelphilologien versammeln. Ihr Sammelband-Charakter ist selbst noch kein komparatistischer Zugang, wenngleich sie wichtige Grundlagen dafür bilden.[12] Das Forschungsprojekt „In Medias Res: British-Italian Cultural Transactions“ ist ein komparatistisches, und Reisen sowie Reiseberichte stellen einen wichtigen Teil des untersuchten Korpus dar. Die Beiträge in den aus dem Projekt entstandenen Publikationen sind dementsprechend komparatistischer Natur und zeigen, wie fruchtbar ein solcher Ansatz ist.[13]
Generell wird in vielen der Arbeiten zum Reisebericht (vor allem in den kleineren Fallstudien) nicht genau zwischen der Reise und dem Bericht darüber unterschieden, viele der Fallstudien präsentieren Autor, Reise und Bericht und arbeiten damit eher deskriptiv, ohne einen analytischen Ansatz bzw. das genaue Erkenntnisinteresse erkennen zu lassen. Wenngleich diese Form der Sichtung und erstmaligen allgemeinen Präsentation eine wichtige und wertvolle Basis für die weitere Erforschung der Reiseliteratur bildet, so hat sie eine genuin literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit den Texten oft behindert.[14]
Bislang zwar oft genannt, allerdings kaum genauer analysiert, wurden die charakteristischen Merkmale der Gattung Reisebericht, die ihn zu einem fruchtbaren und vielfältigen Gegenstand für die literaturwissenschaftliche Forschung machen:
1. Seine Intertextualität, d.h. die inhaltliche Bezugnahme der Texte auf andere Texte und vor allem auch aufeinander:[15] AutorInnen von Reiseberichten sind auch LeserInnen von Reiseberichten und sie berichten zudem von anderen Reisenden. So bezieht sich z.B. George Sand in „Un Hiver à Majorque“ (1842) mehrmals auf J. B. Laurens „Erinnerungen einer Kunstreise nach Mallorca“ (die in einigen aktuellen Ausgaben von Sands Reisebericht in Ausschnitten mitabgedruckt wird). Tobias Smollett spricht in „Travels in France and Italy“ (1766) nicht nur von den Schwierigkeiten, seine Bibliothek auf Reisen zu transportieren, sondern auch von der konkreten Lektüre vor allem antiker Autoren. Und Johann Wolfgang von Goethe berichtet in der „Italienischen Reise“ (1816/17) von anderen Reisenden, die er in Italien trifft, wie etwa Ritter Hamilton und Lady Hamilton, die ihre sogenannten „Attitüden“ vorführt.
2. Die Mehrsprachigkeit der Texte, die sich in nicht weiter gekennzeichneten Übersetzungen über Ein- und Mehr-Wort-Interferenzen bis zu längeren Passagen in anderen Sprachen und Abhandlungen über Sprache(n) zeigt. So fügt Fanny Lewald immer wieder einzelne Wörter oder Sätze in anderen Sprachen in ihr „Italienisches Bilderbuch“ (1847) ein, die sie in Klammern in Übersetzung wiedergibt, wie z.B. bei der Beschreibung eines Volksfestes, als die Menge ruft „Che maraviglia un carpione nell’aria! (Welch ein Wunder! Ein Karpfen in der Luft!)“ Tobias Smollett (bzw. die Erzählerfigur/der Briefeschreiber der „Travels in France and Italy“) konsultiert während seines Aufenthalts in Montpellier einen heimischen Arzt, dem er seine Beschwerden in einem langen, auf Latein verfassten Brief mitteilt. Jener antwortet ihm, zu Smolletts Verwunderung, auf Französisch: „I thought it was a little extraordinary that a learned professor should reply in his mother tongue to a case in Latin“ (Smollett, 124).
3. Die meta-textuelle Ebene der Reiseberichte, auf der deren Traditionsbewusstsein (oft auch in ironisierter Form) in Bezug auf das Genre sichtbar wird. So bezieht sich Charles Dickens im ersten Kapitel („The Reader’s Passport“) seines Reiseberichts „Pictures from Italy” (1846) auf die vielen Bücher, die es bereits über Italien gibt, und meint sogar: „There is, probably, not a famous Picture or Statue in all Italy, but could be easily buried under a mountain of printed paper devoted to dissertations on it.“ Lady Mary Wortley Montagu nimmt das Reiseliteraturgenre der „Turkish Letters“ im Titel ihres in Briefform gehaltenen Reiseberichts „The Turkish Embassy Letters“ (1763) auf.
4. Und schließlich die Hybridität des Genres, das zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Autobiographie und literarischem Text, zwischen positivistischer Beschreibung und ästhetischem Anspruch oszilliert.
Diese Aspekte machen den Reisebericht zu einem spannenden Genre, dessen Vielschichtigkeit bislang erst in Ansätzen erforscht wurde. Für seine genauere Betrachtung spricht nicht zuletzt die seit Jahrhunderten anhaltende Popularität der Gattung, die sich auch in Zeiten des Internets in veränderter Form, z.B. als Reiseblog, behaupten konnte.
[1] Brenner, Peter J.: Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte. Tübingen: Max Niemeyer, 1990, S. 3.
[2] Brenner, Peter J. (Hg.): Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1989, S. 8.
[3] Vgl. Brenner 1990, S. 14.
[4] Brenner 1989, S. 9.
[5] Vgl. Thompson, Carl: Travel Writing. London: Routledge, 2011, S. 1.
[6] Vgl. z.B. Aussagen von Bruce Chatwin oder Jonathan Raban, vgl. dazu Tim Youngs: The Cambridge Introduction to Travel Writing. Cambridge: Cambridge University Press, 2013, S. 7.
[7] Korte, Barbara: Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1996.
[8] Vgl. Hulme, Peter und Tim Youngs (Hg.): The Cambridge Companion to Travel Writing. Cambridge: Cambridge University Press, 2002; Youngs 2013.
[9] Vgl. Griep, Wolfgang: „In das Land der Garamenten oder: Die Macht der Texte“, in: Materialität auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, hg. von Philip Bracher. Berlin: LIT Verlag, 2006, 25-66; Hentschel, Uwe: Wegmarken: Studien zur Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main: Peter Lang, 2010; Opitz, Alfred: „Berichte aus der ‚Zweiten Heimat‘. Zum gegenwärtigen Stand der Reiseliteraturforschung“, in: Akten des X. Internationalen Germanisten-Kongresses Wien 2000. Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert, hg. von Peter Wiesinger. Bern: 2003, 87-92.
[10] Vgl. Nell, Werner: Reflexionen und Konstruktionen des Fremden in der europäischen Literatur: literarische und sozialwissenschaftliche Studien zu einer interkulturellen Hermeneutik. St. Augustin: Gardez!, 2001.
[11] Brilli, Attilio: Als Reisen eine Kunst war: vom Beginn des modernen Tourismus: Die Grand Tour. Berlin: Wagenbach, 2001.
[12] Vgl. Ertzdorff-Kupffer, Xenia (Hg.): Beschreibung der Welt zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Amsterdam: Rodopi, 2000; Ertzdorff-Kupffer, Xenia (Hg.): Erkundung und Beschreibung der Welt zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Amsterdam: Rodopi, 2003; Pinheiro, Teresa et al. (Hg.): Globalisierung avant la lettre Reiseliteratur vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. Münster: LIT-Verlag, 2005.
[13] Vgl. Pfister, Manfred und Ralf Hertel (Hg.): Performing National Identity Anglo-Italian Cultural Transactions. Amsterdam; Rodopi, 2008; Schaff, Barbara (Hg.): Exiles, Emigrés and Intermediaries. Anglo-Italian Cultural Transactions. Amsterdam; Rodopi, 2010; Yarrington, Alison, Stefano Villani und Julia Kelly (Hg.): Travels and Translations. Anglo-Italian Cultural Transactions. Amsterdam: Rodopi, 2013.
[14] Vgl. Maurer, Michael (Hg.): Neue Impulse der Reiseforschung. Berlin: Akademie Verlag, 1999, S. 409f.
[15] Zur Intertextualität von Reiseberichten vgl. Pfister, Manfred: „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext“, in: Tales and ‚their telling difference‘, ed. by Herbert Foltinek, Wolfgang Riehle and Waldemar Zacharasiewicz. Heidelberg: 1993.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz