Es war einmal …. Es wird einmal …
Ein Sammelband über „Das Neue Erzählen“ erkundet die schöne neue Welt der nicht nur filmischen Narration
Von Walter Delabar
Was denn das Erzählen sei, ist eine weitreichende Frage, die nicht schnell zu beantworten ist, dafür reicht das Erzählen historisch viel zu weit zurück und hat sich in zu vielen Facetten in der Gesellschaft bewährt. Dass Erzählen nicht einfach nur ein unterhaltender Akt ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen, ebenso, dass es weder an den Erzähler noch an die Literatur noch an den Film gebunden ist, sondern einen umfassenden Raum im sozialen Leben einnimmt. Für Walter Benjamin war das Erzählen eng verknüpft mit der Vermittlung sozialer Erfahrung – und stand damit in diametralem Gegensatz zum Roman, dem für ihn genuinen Genre der Moderne. Dieter Wellershoff band das Erzählen wieder eng an die Bewältigung sozialer Verhältnisse, indem er ihm – unter anderem – die Aufgabe zuwies, soziales Handeln unter Simulationsbedingungen zu erproben. Dabei hob er nebenbei den Gegensatz zwischen Roman und Erzählen, den Benjamin sah, wieder auf.
In der sozialen und kulturellen Praxis haben solche Diskussionen derweil kaum eine Rolle gespielt. Das Narrative erlebte im 20. und frühen 21. Jahrhundert eine ungeheure Konjunktur. Sogar bis in die Werbung und ins Marketing hinein ist das Erzählen vorgedrungen, nimmt man das Konzept vom Story Telling als Basiskonzept werblicher Maßnahmen hinreichend ernst. Man muss den Leuten eine Geschichte erzählen von sich und dem, was man macht oder anbietet, damit sie sehen können, ob das alles zu ihnen passt. Von hier bis zum praktischen Nutzen des Erzählens ist es nicht weit – und das gilt auch immer noch dann, wenn wir in jene Bereiche vorstoßen, in denen das Erzählen mit dem Fiktionalen eng verbunden ist. Erst recht, wenn auf einmal die ästhetische Wahrnehmung als Störfaktor in die Nutzanwendung eingeschmuggelt wird, quasi als Restbestand der Kritischen Theorie, nur dieses Mal ins Genießerische abgewandert.
In den vergangenen Jahren ist – eng gebunden an die Erfolge neuerer TV-Serienformate – die Rede von der Ubiquität des Narrativen immer weiter ausgedehnt worden. Sie hielt sogar Einzug in die Konkurrenzen verschiedener Medien und Formate, die das Narrative für sich in Anspruch nahmen. Jochen Vogt hat etwa bereits 2005 das Fernseh-Reihenformat „Tatort“ als „wahren deutschen Gesellschaftsroman“ charakterisiert – eine derart eingehende Formulierung, dass seitdem keine kultur- und medienwissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Tatort“ davon absehen kann.
Auch die neueren TV-Serienformate, die seit den „Sopranos“ (1999–2007) immer höhere Aufmerksamkeit erlangten, nehmen mittlerweile in der öffentlichen Rede eine signifikante Stelle ein, werden sie doch als Nachfolger des Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts beworben: Sie hätten dessen Funktion als selbstreflexives Medium von Gesellschaft übernommen.
Eines der wichtigsten Elemente des Formats ist dabei die folgenübergreifende Narration, wie die Herausgeber des vorliegenden Bandes, Bernd Kracke und Marc Ries, betonen, die tendenziell unabschließbar wird und deren Komplexitätsgrad hoch ist. Dazu trägt ein erzählerisches Verfahren bei, in dem verschiedene, meist unverbundene Handlungsstränge miteinander kombiniert und einander abwechselnd erzählt werden, die Linearität der Erzählung also nicht mehr an einen Handlungsstrang gebunden wird. Dieses Verfahren, das filmisch aus den „Short cuts“ abgeleitet werden kann, geht dabei über einen reinen Szenenwechsel weit hinaus. In neueren Varianten wie „Game of Thrones“ (ab 2011) wird dieses Konzept in extenso weiterentwickelt – was im Übrigen das Ganze äußerst schwer beherrschbar macht und massiv auf die erzählerische Ökonomie zurückwirkt. Es wird immer schwerer, den Zusammenhang der Gesamterzählung herzustellen, für die Produktion ebenso wie für die Rezeption.
Die Attraktivität solcher Formate beruht dabei auf einer großen Nähe zur Szenerie und zu den Protagonisten, also auf der „bewohnbaren Diegese“. Die weitergehenden Funktionen wie die narrative Diskussion von lebensweltlichen Wahrnehmungen und Problemlagen bleiben davon unbenommen. Die Differenz zwischen fiktionaler Welt und dem, was in eben dieser Fiktion als „Real World“ bezeichnet wird, bleibt erkennbar bestehen. Wie einer der Beiträge des Bandes „Das neue Erzählen“ betont, ist dies auch der Grund dafür, dass die Avatar-Welt „Second Life“ in dem Moment rasant an Attraktivität verlor, in der sie zur Kopie der bekannten gesellschaftlichen Realität geronnen war.
Zweifelsohne allerdings gehen derzeit die stärksten Impulse bei der Weiterentwicklung narrativer Formen von filmischen Formaten aus, insbesondere von denen, die vielteilig angelegt und zumindest potenziell unabgeschlossen und unbegrenzt sind. Deren Diskussion fokussiert dabei intensiv die sozialen Funktionen der Narrationen, von der verstärkten öffentlichen und wissenschaftlichen Aufmerksamkeit offensichtlich angeregt.
Der von Kracke und Ries betreute Band zum „Neuen Erzählen“ ist deshalb mit gutem Grund an die „Biennale des bewegten Bildes“ angelegt, die zum ersten Mal 2013 in Frankfurt am Main veranstaltet wurde. Der Band bildet das intellektuelle Beiprogramm zum visuellen Experiment. Um die internationale Wirkung sicherzustellen, sind die Beiträge des Bandes auf Deutsch und Englisch zu finden – sie bilden zwei gegenläufige Text-Ensembles.
Allerdings sehen Kracke und Ries neben der Verstärkung des folgenübergeifenden Erzählens noch eine zweite Ebene, bei der die Expansion des Narrativen zu erkennen sei, nämlich die Überschreitung von Werk- und Mediengrenzen, in deren Kontext die monodirektionale Struktur der bisherigen Medien aufgelöst und bedingt in eine bidirektionale oder multidirektionale Struktur übergeleitet werde.
Nun ist das eine alte Sache, die spätestens seit Brechts Radiotheorie formuliert wurde und seitdem immer wieder durchs mediale Dorf getrieben wird. Immer dann, wenn die alten monodirektionalen Medien Konkurrenz erhalten oder sich neue Möglichkeiten ergeben, läutet die jeweilige Speerspitze der Medientheorie den Beginn eines neuen, eben gar mediendemokratischen Zeitalters ein. Solche Beiträge, die sich auch in diesem Band finden, gewinnen durch die selbstgewisse und euphorische Art, in der sie die schöne neue Welt der multidirektionalen Medien verkünden – wohingegen deren Halbwertszeit nicht eben hoch ist. Man erinnere sich an die diversen Konjunkturen der Brechtʼschen Radiotheorie oder an die Hypertexteuphorie der 1990er-Jahre, von der eben auch keine nachhaltigen Wirkungen – sprich unlesbare Texte – geblieben sind.
Aufschlussreicher ist das Verhältnis solcher dennoch notwendigen prospektiven Entwürfe zur kulturellen und medialen Praxis (im Gesamtfeld sozialen Handelns). Die Beharrungskräfte scheinen dabei nicht minder groß zu sein, wie die Impulse, die allerdings oft genug aus unerwarteten Bereichen kommen. Die Konjunktur der sozialen Medien war ebenso wenig vorauszusehen – und wurde vorausgesehen – wie die Bedeutung der TV-Serienformate.
Wie schwer man sich damit tut, zeigt der ansonsten selbst wieder den Aufbruch in die neuen Zeiten aufrufende Beitrag von Michel Reilac, dem Exekutivdirektor von ARTE France Cinema, der allerdings die Beharrlichkeit des „passiven Publikums“ einräumen muss. Es sei eben nicht so einfach, „die Zielgruppe von ihrem gemütlichen Sofa hochzulocken, von dem aus sie sich Filme im Fernsehen oder über den Computer anschaut und Dinge macht, die sich auf die Geschichte, die sie gerade sieht, beziehen“. Da mag das „Gaming“ noch so sehr „Teil unserer heutigen Standardkultur“ geworden sein, die passiven Anteile bleiben hoch und die Attraktivität des realen Lebens gewinnt eher noch (ganz gegen jeden kulturkritischen Abgesang), wie Reilac im selben Atemzug vorträgt.
Im Band finden sich daneben Beiträge, die sich mit höchst unterschiedlichen medialen Formaten beschäftigen. TV-Serienformate (Huck et al., Lang, Bieber und Kuhn) finden sich ebenso darunter wie Beiträge zum klassischen Erzählkino (Seel, Hediger, Rebentisch, Nessel und Pauleit sowie Gessmann), Beiträge zur Weiterentwicklung der TV-Kultur (Reilac) ebenso wie solche zu 3D- (Huhtamo) und Panorama-Filmen (Pape, Janecke). Außerdem werden Formen der narrativen Selbstreflexion vorgeführt (etwa durch Usha Reber am Beispiel von Alban Nikolai Herbsts Texten, was allerdings im Vergleich zu den benachbarten Studien einigermaßen konventionell wirkt). Das Verhältnis von Text zu Bild (Reck) wird ebenso diskutiert wie die Video-Kunst (Kuba-Ventura), die Klangexperimente seit den 1920er-Jahren (Breitsameter) und die narrativen Qualitäten der Social Media (Reichert, Ries). Außerdem wird die Funktion der Narration in neueren Spielformen und der Einfluss der Spieler durch interaktiven Zugriff auf die Narration vorgestellt (Günzel), was zum interaktiven Trans-Media Storytelling ausgeweitet wird (Söller-Eckert). Das geht bis hin zu Alan Shapiros These von der Software als „Expanded Narration“ – einem Beitrag, dessen Verkündigungsgestus unübersehbar ist.
Ob das Ausufern der filmischen Narration in die Konsumkultur, die anhand der neueren Bond-Filme vorgestellt wird (Gessmann), nun auch eigenständige Narrationen kreiert, die einen eigenständigen Charakter haben, bleibt jedoch zu hinterfragen. Der Hinweis auf den neueren Umgang mit Aufzeichnungsmedien, auf die unter anderem auf Martin Seel verweist, wäre freilich ernst zu nehmen, zeigt sich hier doch eine Rezeptions-Praxis, in der sich Zuschauer vom Diktat der Erzählungen lösen und sie in Eigenregie übernehmen.
Den Überlegungen zur Narration der Social Media allerdings hätte es gut getan, wenn sie an Vorstudien etwa zur Funktion und den Formen des Autobiographischen angeknüpft hätte. Die verschiedenen Narrationsformen und -ebenen und deren Abstraktions-, Aneignungs- wie Distanzierungsverfahren wären dabei stärker in den Vordergrund geraten. Denn selbstverständlich kreieren die Teilnehmer der Social Media Eigenerzählungen, allerdings in einem spezifischen Medium, das anderen Gegebenheiten gehorcht als etwa die konventionellen literarischen Erzählungen – nicht zuletzt deshalb, weil sie keinem Kunstanspruch gehorchen (wenngleich einem Inszenierungszwang folgen). Marc Riesʼ Überlegungen bewegen sich stattdessen derart im Allgemeinen, dass sie die Besonderheiten der Social Media aus den Augen zu verlieren drohen: „Ein jeder Erzähler im Universum des Social Media Storytelling“, schreibt er etwa, „produziert seine Erzählung jeweils für andere Erzähler, erwartet deren narrative Fragmente und erzeugt selbst wiederum neue.“ Das aber ließe sich über jede Form der Kommunikation sagen. Kommunikation gerät damit generell zur Narration, wobei beide Seiten verlieren.
Aufschlussreich auch sind die Thesen Recks, der im „erweiternden Erzählen“ eben nicht den Versuch sieht, Komplexität zu reduzieren, sondern deren Ausweitung. Es gehe nicht um die „Lesbarkeit der Welt“, sondern um ihre „Verrätselung“, „Erzählen“ sei „a priori ein Prinzip jenseits der Komprimierungen und der Protokolle“, „Abschweifung, nicht Verkürzung“ sei das „Prinzip“. Das Hauptargument sieht er dabei darin, dass die Narrationen eben nicht weniger werden, was der Fall sein müsste, wenn sie Lösungen und damit Komplexitätsreduktionen brächten. Stattdessen schwellen die narrativen Formen und Produkte massiv an.
Dem ist sogar zuzustimmen, ohne dass damit andere Funktionen des Erzählens aufgegeben würden, und seien sie noch so vergeblich, darunter vor allem eben doch, Welt lesbar zu machen. Darauf spielt Reck selbst an, wenn er davon spricht, dass etwa über Theorien Gegenstände, Verhältnisse oder Vorgänge verstanden werden sollen. Dass dies nicht restlos gelingt, sei zugestanden. Der Untergang der philosophischen Großsysteme geht immerhin auf diesen Umstand zurück. Zuzustimmen ist ihm auch, wenn er sich von der Abbildfunktion von Sprache und damit auch von Erzählung abwendet (die meisten Literaturwissenschaftler würden dem mit der gebührenden Abschätzigkeit folgen) und stattdessen auf die „Modellkonstruktion“ setzt. Dass wir Besseres kaum haben und Realität (was immer das ist) in Sprache nicht aufgeht (wenn sie denn nicht, vice versa, überhaupt das Einzige ist, was Realität für uns konstruiert), sollte hingegen nachvollziehbar sein.