Die Welt aus einer anderen Distanz gesehen

Zum 100. Geburtstag des Dramatikers Arthur Miller sind seine sämtlichen Erzählungen in deutscher Übersetzung erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Prosawerk des amerikanischen Dramatikers Arthur Miller (1915–2005) ist überschaubar. Neben dem Roman „Fokus“ (1945, dt. „Brennpunkt“) sind es 16 Geschichten und Kurzgeschichten, die unter dem Titel „Presence – Sämtliche Erzählungen“, unterteilt in drei Abschnitte, in der Übersetzung von Uda Strätling im S. Fischer Verlag erschienen sind. Die frühen Erzählungen des Abschnitts „Ich brauche dich nicht mehr“ stammen aus den 1950er- und 60er-Jahren und wurden damals zunächst in Zeitschriften veröffentlicht, ehe sie dann in zwei Sammlungen zusammengefasst wurden. Neben diesen frühen Geschichten erscheinen hier anlässlich seines 100. Geburtstages erstmals sechs letzte Erzählungen von Arthur Miller in deutscher Sprache.

In der Auftaktgeschichte „Ich brauche dich nicht mehr“ erlebt der fünfjährige Martin einen jüdischen Feiertag, von dem er jedoch weitgehend ausgeschlossen ist. Während der Vater und sein großer Bruder Ben fasten und in der Synagoge zu Gott beten, wird der Kleine daheim von der Mutter ermuntert und verhätschelt. Er solle doch essen und trinken, dabei würde er sicher den ganzen Tag ohne Wasser und Essen überstehen. Martin fühlt sich von der Welt der Großen ausgeschlossen, erst in einem Jahr wird er dazugehören. Seiner Mutter gibt er die Schuld aus kindlichem Trotz, der in dem Satz gipfelt: „Ich brauche dich nicht mehr“. Schließlich eskaliert die Angelegenheit in einem Streit zwischen den Eltern.

In „Monte Sant-Angelo“ sind Apello und Bernstein, zwei Amerikaner, quer durch Italien unterwegs, von denen Apello auf der Suche nach seinen familiären Wurzeln ist, während sein Freund ihn nur widerwillig begleitet. In einem Bergdorf begegnen sie einem Händler, der sein Bündel auf eigenartige Weise schnürt, die Bernstein von seinem Vater kennt. Er ist sich sicher, dass der Händler ein Jude ist, auch wenn sich dieser dessen scheinbar nicht bewusst ist.

Eine der berühmtesten frühen Erzählungen Millers ist „The Misfits“, die 1960 nach seinem Drehbuch („Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“) verfilmt wurde, das er als ein Geschenk an seine damalige Ehefrau Marilyn Monroe geschrieben hatte. Es ist eine Geschichte über  Außenseiter, die in einer amerikanischen Wüste wilde Mustangs grausam mit Flugzeug und Lkw fangen – und das für eine Konservenfabrik. Die alten Männlichkeitsideale werden über Bord geworfen und so bedient sich Miller hier der harten Erzählweise Ernest Hemingways. In „Die Wahrsagung“ erlebt eine eigentlich glücklich verheiratete Ehefrau ein erotisches Erlebnis, während Miller in „Schiffsschlossers Stunde“ aus der Arbeitswelt berichtet. Tony, der Werftschlosser und Knastbruder bekommt Besuch von seinem Großvater aus Italien, der immer noch der „Übervater“ der Großfamilie ist.

Neben den weiteren frühen, meist nur kurzen Erzählungen wie „Bitte nichts töten“ „Jockey, Momentaufnahme“, „Ruhm“ und „Suche nach einer Zukunft“ nimmt die Geschichte „Unansehnliche Frau, ein Leben“ eine singuläre Stellung ein, denn sie ist einziger Bestandteil des zweiten Abschnittes und bildet quasi den Übergang zu den späten Erzählungen, die durchweg Geschichten von wenigen Seiten Umfang sind. In ihnen erzählt Miller von kurzen menschlichen, meist zufälligen Begegnungen, so beispielsweise auch in der Titel- und den Band abschließenden Geschichte „Presence“, wo es am Strand zu einem erotischen Momentspiel kommt.

In einem Vorwort aus dem Jahr 1966 verrät der Dramatiker Miller seine Sympathie für die Prosa, denn hier kann er literarische Aspekte wie Ortsbeschreibungen oder Nuancen der Körpersprache in den Blick nehmen, die auf der Bühne eine untergeordnete Rolle spielen. Die meisten hier versammelten Geschichten „wären nie und nimmer etwas fürs Theater“. Sie sind „schlicht das, was ich aus einer anderen Distanz gesehen habe“. Für den Leser sind sie ohne Zweifel eine überaus interessante Begegnung mit Arthur Miller.

Titelbild

Arthur Miller: Presence. Erzählungen.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2015.
414 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783596950195

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