Von allem zu viel

„Mein Hiddensee“ ist Ulrike Draesners Versuch, ihre Erinnerung von der Natur überwuchern zu lassen

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit einiger Zeit versammelt der mare Verlag literarische Inselbeschreibungen in einer eigenen Reihe: „Meine Insel“. Das Possessivpronomen deutet auf eine persönliche Verbundenheit des Autors oder der Autorin mit dem gewählten Ort hin. Zugleich ist auch der Blick auf die Insel jeweils ein individueller; nicht nur aufgrund der persönlichen Geschichten, die erzählt werden, sondern vor allem wegen der Individualität und Vielfalt der literarischen Stile.

Ulrike Draesners Beitrag „Mein Hiddensee“ ist weniger ein Reisebericht als vielmehr ein Skizzenbuch. Von der Insel wird die Autorin nicht nur mit rauer Witterung, störrischen Landschaften und reichhaltiger Flora und Fauna konfrontiert, sondern auch mit ihren Erinnerungen an gemeinsame Urlaube mit ihrem früheren Mann, der sie betrogen und verlassen hat. Ihr Versuch, sich an beidem literarisch abzuarbeiten, gelingt mit sehr durchwachsenem Erfolg.

Auf der Suche nach einem literarischen Ausdruck für die Natur der Insel bewegt sich Draesner zwischen zwei extremen Polen: Zum einen wünscht sie sich eine Befreiung der Natur von der Sprache, zum anderen fühlt sie sich von ihr zu einer Überformung ihres Ausdrucks herausgefordert.

Beinahe zwanghaft ringt die Autorin wieder und wieder darum, ihre Sprache ablegen zu können: „Sie beschließt, mit allem Denken aufzuhören, nichts mehr zu übersetzen, nichts mehr einzufüllen in die Fächer und Raster, die ihre Muttersprache ihr anbietet.“ Der Wunsch, insbesondere der Natur unvermittelt zu begegnen, ist womöglich auf das Erholungsbedürfnis einer Schriftstellerin zurückzuführen: „Mit einem Mal ist sie froh. Nicht gemacht, nichts. Sie hat Pause. Ist einfach da.“ Nimmt man hinzu, dass sie sich selbst in der dritten Person förmlich von außen beobachtet, lässt sich die Hoffnung auf eine Ablösung von der Sprache auch als Versuch der Selbstdistanzierung vermuten, vielleicht des Abstreifens von Denkmustern und Erinnerungsbildern, die von der Natur nach Möglichkeit überwuchert werden sollen. 

Die Folge dieses Befreiungs- und Mußewunsches ist jedenfalls eine in weiten Teilen ungezügelte und oft auch unzusammenhängende Anhäufung von Wörtern und Gedanken, die manchmal an Lustlosigkeit grenzt: „Die Namen der Büsche enden alle gleich: Weißdorn, Rotdorn, Kreuzdorn, Sanddorn.“ Häufig wirkt der Text chaotisch und ins Unreine geschrieben, wie gedankenlose Kritzeleien in einem Tagebuch – aber leider selten interessant, sondern meist ermüdend langweilig: „Grasnelke, Gras. Auf dem Rückweg sein: weiter weißer Himmel, schlagartig leuchtendes Weideland, ein Wolkenloch. Winddurchpustetes Große-Ferien-Gefühl. Namen der Königskerze: Wollkraut, Kunkel, Wullena, Blitz. Am Fuß des Hanges der Verlandungssee. Reedsal. Red dich selig. Wolliges, sich wiegendes Honiggras.
Blökendes Schaf.“

Dieser langatmige Anhäufungs-Effekt überrascht besonders angesichts von Passagen, die über die begrenzte Ausdruckskraft von Aufzählungen, beispielsweise für sinnliche Erfahrungen, reflektieren: „Sprache erscheint ihr in diesen Bereichen stark unterentwickelt und trüb; regelmäßig muss sie lachen, wenn sie liest, wie Ergebnisse von Teeverkostungen und Weinproben in Worte gefasst werden: hilflose Adjektivstapel neben missglückten Metaphernbildungen für distinkte Geschmackserlebnisse.“ Ein echter Perspektivwechsel gelingt am ehesten, wenn die Mutter sich auf die einfachen Fragen und Missverständnisse „des Kindes“ einlässt, das nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihre Ausdrücke auf die Probe stellt, indem es Worte auseinandernimmt und falsch wieder zusammensetzt („Skan-bi-lavisch“).

Die Autorin ist sich darüber bewusst, dass ihr Projekt einer Befreiung von Sprache scheitern muss. Sie erkennt das menschliche Bedürfnis nach Mustern und Wörtern, reflektiert mit Wittgenstein und Lacan über unsere Abhängigkeit von Sprache und wird träumend von ihrer Tochter beim Sprechen belauscht.
Und auch ihre eigene, stark ausgeprägte Formulierungslust macht ihr einen Strich durch die Rechnung. So wie der Stil manches Mal ungebremst erscheint, wirkt er an anderen Stellen schwülstig und gestelzt, wenn etwa Naturphänomene personifiziert (der Wind als „ER“) oder artifizielle Wortneuschöpfungen kreiert werden („Salzflutlicht“). Insgesamt haben die Naturbeschreibungen überall ein „zu viel“ an sich: zu viele Wechsel, zu viele Wiederholungen, zu viele Worte.

Als überforderter Leser begibt man sich auf die Suche nach Sinnzusammenhängen und stellt fest, dass die Autorin dort am besten ist, wo sie sich als Erzählerin zeigt. Die Erinnerungen an ihren Mann, schon früh Andeutungen seines Ehebruchs, das stückweise Aufwickeln ihrer gemeinsamen Geschichte und die Teilhabe an der immer noch nachwirkenden Verlusterfahrung sind die besten Passagen des Buches. Hier finden sich ausdrucksstarke Sätze, die man herausnehmen und zu einer eigenen Erzählung zusammenfügen möchte: „Damals schob ihr Mann sie auf dem Rad an. Im Hotel in Kloster gab man ihnen ein Zimmer mit drei blinkenden Fenstern, durch eines schien der Mond, durch zwei das Meer.“ Man mag zu dem Schluss kommen, dass Draesners weite Teile des Buches beherrschender Versuch, sich von der Insel ablenken lassen („Sie hofft, dass andere Dinge und Bindungen verschwinden.“), an der Omnipräsenz der Vergangenheit an diesem Ort scheitern muss: „Zwei Menschen breit der Pfad.“  

Als Kontrastbeispiel zu Draesner sei etwa „Mein Zypern“ erwähnt, in dem Joachim Sartorius die Insel weitestgehend klassisch erzählend erkundet: Liebevoll entfaltet er Urlaubserinnerungen mit seinen Töchtern und kuriose Begegnungen mit Anwohnern der Insel. Als Diplomat setzt er sich mit der Geschichte und den politischen Spannungen auseinander, als Entdecker beschreibt er Baudenkmäler, als Lyriker setzt er der Insel am Ende auch ein poetisches Denkmal. So erweist sich die Reihe des mare Verlags als Fundgrube für vergleichende Inselforscher wie auch für alle, die sich von der Diversität des literarischen Ausdrucks auf dem Gebiet der Reiseliteratur überzeugen möchten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Joachim Sartorius: Mein Zypern.
Mare Verlag, Hamburg 2013.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481749

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Titelbild

Ulrike Draesner: Mein Hiddensee.
Mare Verlag, Hamburg 2015.
198 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866482135

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