Spätromantiker und „Reichsherold“
Zum 200. Geburtstag von Emanuel Geibel
Von Manfred Orlick
Emanuel Geibel (1815–1884) war einer der erfolgreichsten deutschen Lyriker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn nicht sogar der berühmteste. Heute ist er ein fast vergessener Schriftsteller, von dem zwei sehr unterschiedliche Verszeilen gewissermaßen in die Literaturgeschichte eingegangen sind: das volksliedhafte „Der Mai ist gekommen“ und die martialische Phrase „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen“. So wie diese Zeilen polarisieren, so polarisiert auch der Dichter selbst – das bereits zu seinen Lebzeiten.
Am 18. Oktober 1815 wurde Emanuel Geibel in der Hansestadt Lübeck geboren. Sein eigentliches Geburtsdatum soll der 17. Oktober gewesen sein, doch sein Vater verlegte den Geburtstag auf den 18. Oktober – in Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig zwei Jahre zuvor. War das schon ein Hinweis auf Geibels spätere patriotische Gesinnung? Nachdem der Pfarrerssohn zunächst vom Vater den ersten Unterricht erhalten hatte, besuchte er das Lübecker Katharinen-Gymnasium. Hier wurde sein Interesse für die griechische Antike und für Literatur erweckt, insbesondere für die Klassik und Romantik. Erste Gedichte entstanden im jugendlichen Eifer. Von 1835 bis 1838 folgten Studienjahre in Bonn und Berlin, wo Geibel dem Wunsch des Vaters entsprechend Theologie und Philologie studierte. In den Berliner Salons wurde er mit Adalbert von Chamisso, Joseph von Eichendorff, Franz Kugler und Bettina von Arnim bekannt, die dem 23-jährigen und seinem Jugendfreund Ernst Curtius eine Hauslehrerstelle bei einem russischen Gesandten in Athen vermittelte.
Damit ging der sehnlichste Griechenland-Wunsch des jungen Geibel erst einmal in Erfüllung. Mit seinem Freund, der vor allem an den antiken Altertümern interessiert war, nutzte er die knapp drei Jahre (1838–1840), um das Land und seine Kultur näher kennenzulernen. Beide versuchten sich an Nachdichtungen verschiedener klassischer griechischer Schriftsteller. Hier entstanden auch Geibels erste Gedichte im romantischen Volksliedton, die nach seiner Rückkehr in dem Band „Gedichte“ veröffentlicht wurden.
Zurück in Lübeck, wollte der jetzt 25-Jährige endlich Dichter sein, was auf Unverständnis bei seinen Eltern und Freunden stieß. Die Lübecker schüttelten wohl den Kopf, wenn er als „armer Poet“ in einer mitgebrachten Griechentracht mit Fez und Wasserpfeife durch die Stadt stolzierte. In dieser hoffnungslosen Situation erhielt Geibel ein großzügiges Angebot, für knapp zwei Jahre als Gast auf Schloss Escheberg zu leben, wo der Gutsbesitzer und Kunstmäzen Karl-Otto von der Malsburg literarische Zirkel abhielt. Hier entstand auch Geibels bekanntes Mailied und in Ruhe konnte er die zweite Auflage seiner Gedichtsammlung vorbereiten.
Neben seinen romantischen Versen versuchte Geibel – wie viele Schriftsteller des Vormärz –die politische Stimmung in der Mitte des 19. Jahrhunderts einzufangen. In einer Auseinandersetzung mit Georg Herwegh antwortete er auf dessen Gedicht „Aufruf“ mit einer lyrischen „Mäßigung“: „Bist du dir selber klar bewusst / Dass deine Lieder Aufruhr läuten“. Dieses „Mäßigungs“-Gedicht fand das Wohlwollen des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., der zuvor schon Gefallen an seinen Versen gefunden hatte. Geibel erhielt eine jährliche und lebenslange Pension von 300 Talern „zur ungehemmten Fortsetzung einer poetischen Laufbahn“. Nach zwei gescheiterten Versuchen als Dramatiker befreite ihn dieser Ehrensold vorläufig von allen bisherigen Sorgen und Zweifeln. Er unternahm infolgedessen zahlreiche Reisen, oft zu Freunden oder Schriftstellerkollegen wie Ferdinand Freiligrath (der übrigens eine königliche Pension abgelehnt hatte) oder Justinus Kerner. Für den inzwischen angesehenen Geibel waren es produktive Jahre: Balladen, Sonette und neue Gedichtsammlungen prägen diese Schaffensphase.
Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 beunruhigten Geibel sehr. Er mahnte zur „Geduld“ und positionierte sich mit seinen „Juniusliedern“ klar auf die Seite des politischen Konservatismus. Während in der Frankfurter Paulskirche die Abgeordneten der Nationalversammlung über den zukünftigen Staatsaufbau und die Verfassung eines deutschen Nationalstaates heftig debattierten, unterrichtete Geibel in diesen Monaten am Lübecker Katharinen-Gymnasium und versuchte sich an einer Tragödie über Heinrich I., den mittelalterlichen Reichsgründer. Nach dem ersten Akt brach er die Arbeit allerdings ab.
Geibel, der schon länger eine bürgerliche Existenz gründen wollte, heiratete 1852 die 19 Jahre jüngere Nachbarstochter Amanda Trummer. Seine geliebte „Ada“, die ihm 1853 eine Tochter schenkte, verstarb jedoch schon zwei Jahre später. Im Januar 1852 hatte Geibel bereits eine Einladung von Maximilian II. nach München erhalten, wo ihm eine Ehrenprofessur für Literatur und Ästhetik angeboten wurde. Der bayrische König, ehemaliger Absolvent der Göttinger und Berliner Universität, wollte nach seiner Thronbesteigung den Ruf der Münchner Universität heben, indem er Gelehrte und Literaten aus dem „deutschen Ausland“ nach Bayern holte. München sollte ein zweites Weimar werden. Die Berufung war für Geibel und seine junge Familie eine willkommene Gelegenheit, in eine materiell gesicherte Zukunft blicken zu können.
Geibel, das „Nordlicht“, wurde in München mit Auszeichnungen und Einladungen überhäuft. Um ihn gruppierten sich im Münchner Dichterkreis „Krokodil“ Schriftsteller wie Paul Heyse, Friedrich Bodenstedt oder Viktor Scheffel. Ohne feste Aufgabenstellung konnte sich Geibel weiterhin der Dichtkunst widmen, wobei ihn anfangs die lange Krankheit und schließlich der Tod seiner Frau belastete. Vor allem mit Paul Heyse war er in den späten Münchner Jahren sehr produktiv. Ihr „Münchner Dichterbuch“ (1862) wurde in ganz Deutschland bekannt. Durch ihre Veröffentlichungen von Gedichten und Novellen in den damals populären Zeitschriften wie „Daheim“ oder „Die Gartenlaube“ gewannen sie weiter an Bekanntheit.
Maximilians Nachfolger Ludwig II. – nicht sonderlich interessiert an den schöngeistigen Literaten seines Vaters, sondern mehr an der Musik eines Richard Wagners – entließ Geibel 1868. Allerdings war dieser, der in München nie einen Hehl aus seiner preußischen Gesinnung gemacht hatte, nicht ganz schuldlos an seiner Entlassung, hatte er doch eine Lobeshymne für König Wilhelm von Preußen verfasst, in der er den Wunsch nach einem deutsch-preußischen Einheitsstaat artikulierte. Im Gegenzug bewilligte ihm Wilhelm I. eine Rente von 1.000 Talern.
Als Geibel 1868 nach Lübeck zurückkehrte, wurde er „in voller Würdigung seines Dichtertums und seiner vielfach bewährten patriotischen Gesinnung“ zum Ehrenbürger der Hansestadt ernannt. Vaterländisch begrüßte der „Pensionär des Königs“ 1870/71 den deutsch-französischen Krieg mit militanten Kriegsliedern und Siegeschorälen, die er im Gedichtband „Heroldsrufe“ (1871) versammelte.
In den letzten Lebensjahren wurde es ruhiger und einsamer um Geibel, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich kontinuierlich, ausgedehnte Reisen waren nicht mehr möglich. Dafür konnte er sich an seinen zahlreichen Enkelkindern und der weiterhin großen Verehrung der Lübecker erfreuen. Als „Stadtdichter“ und „Reichsherold“ lebte er weiter in seinem Künstler-Elfenbeinturm, ohne die gesellschaftlichen Veränderungen wahrzunehmen. Am 6. April 1884 starb Emanuel Geibel in Lübeck, 29 Jahre nach dem Tod seiner Frau. Das Begräbnis glich fast einem Staatsakt. Persönlichkeiten aus dem ganzen Reich bekundeten telegrafisch ihr Beileid. In das Grab gab man dem hochgeachteten Sohn der Stadt die 100. Auflage seiner Jugendgedichte, die gerade erschienen war.
Fünf Jahre später errichtete man für den Dichter ein Bronzedenkmal auf dem Lübecker Platz „Koberg“, der gleichzeitig in „Geibel-Platz“ umbenannt wurde. Ein halbes Jahrhundert später wurde das Denkmal jedoch neben das Heilig-Geist-Hospital verbannt und der „Koberg“ erhielt wieder seinen ursprünglichen Namen. Trotzdem ist Geibels Name noch heute in Lübeck lebendig.
Anders dagegen in der deutschen Literaturgeschichte: Sein Stern leuchtete nur bis zum Ersten Weltkrieg. Nach dem Untergang des deutschen Kaiserreichs wurde ihm seine nationale Gesinnung, seine Treue zu Preußen und der Pathos seiner Heldengedichte zum Verhängnis. Geibel geriet in Vergessenheit, von der literaturwissenschaftlichen Forschung wird er heute kaum noch wahrgenommen. Waren früher seine Gedichte aus Anthologien und Lesebüchern nicht wegzudenken, so sucht man beispielsweise in der neuesten Ausgabe des „Echtermeyer“ seinen Namen vergebens. Seine Gedichte folgten dem klassischen Schönheitskult und waren der Formvollendung und Ästhetik verpflichtet, weshalb viele vertont wurden, unter anderem auch von Robert Schumann und Johannes Brahms. Es waren spätromantische Verse, denen aber die Innerlichkeit und Gefühlstiefe eines Mörike oder Storms fehlte. Bedeutender sind seine Übersetzungen antiker und romanischer Verse, hier schuf er mit seiner Formgewandtheit Bleibendes.
Mit seiner national-konservativen Haltung stand Geibel im scharfen Gegensatz zu den literarischen Strömungen seiner Zeit, vor allem die Jungdeutschen und Naturalisten kritisierten ihn scharf. Fontane prägte sogar den Begriff der „Geibelei“, einer schönen, aber formal stereotypen Lyrik, die sich mit beliebigen Inhalten füllen ließe. Aber alle, selbst Theodor Storm, beneideten ihn um seinen literarischen Erfolg.
Um Emanuel Geibel heute gerecht zu werden, muss man seine Person und sein Werk im Kontext der damaligen politischen Verhältnisse sehen. Wie Geibel suchten viele Schriftsteller und Künstler die Nähe von Fürstenhäusern, nicht nur wegen der materiellen Absicherung, sondern weil sie durch sie die nationale Einheit am ehesten verwirklicht sahen. Es ist Geibel nicht anzulasten, dass die Reichsgründung nicht durch demokratische Bestrebungen, sondern erst durch den Hass auf einen gemeinsamen Feind zustande kam.
Übrigens wurde das ihm oft vorgeworfene Zitat „Und es mag am deutschen Wesen / einmal noch die Welt genesen“ aus dem patriotischen Gedicht „Deutschlands Beruf“ (1861) von den Nationalsozialisten aus dem Zusammenhang gerissen und für ihre Propaganda missbraucht. Meist noch mit einer Fälschung, indem das „mag“ durch das befehlsmäßige „soll“ ersetzt wurde.
Emanuel Geibel war sicher nur eine Randfigur der deutschen Literatur und seine Gedichte sind längst nicht mehr zeitgemäß. Sein 200. Geburtstag sollte aber Anlass genug sein, unsere eingefahrene Sicht und Beurteilung einmal kritisch zu hinterfragen.