Auf Lesereise um die kapitalistisch uniformierte Welt

Eugen Ruge bietet in „Annäherung“ lesenswerte „Notizen aus 14 Ländern“

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem Eugen Ruge 2011 für seinen Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts (vgl. die Rezension Verwerfungen einer Familiengeschichte im 20. Jahrhundert) den Deutschen Buchpreis erhalten und gleichzeitig einen der größten Verkaufserfolge des Jahres erzielt hatte, wurde er zu einem besonders gefragten Gast in germanistischen Seminaren und Goethe-Instituten in der ganzen Welt. Über die Reisen, die er rund um die Entstehung und die weltweite Verbreitung dieses Romans unternommen hat, berichtet er nun auf gänzlich unprätentiöse und angenehm lesbare Weise.

Die bescheidene Gattungsbezeichnung „Notizen aus 14 Ländern“ entspricht dem Ton dieser kurzen, selten mehr als zehn Seiten umfassenden Texte, bei denen es sich meist um Aufzeichnungen handelt, mit denen offensichtlich der Verfasser zunächst für sich selbst die Eindrücke festhalten wollte, die auf seinen Lese- und Buchvorstellungsreisen auf ihn eingeströmt sind. Der oft sehr dichte Terminkalender führt dazu, dass er die Impressionen eines Ungarnaufenthalts notiert, als er bereits im Flugzeug nach Shanghai sitzt, oder dass er auf dem Rückflug von Helsinki sein Notebook verliert und die Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Finnland zu einem Zeitpunkt rekonstruieren muss, als sich schon wieder andere Reiseeindrücke dazwischen geschoben haben.

Das desillusionierte Fazit zu solchen nur wenige Tage umfassenden Lesereisen lautet denn auch: „Lesungen mit anschließendem spätem Essen. Bauchkneifen. Einsame Spaziergänge durch eine fremde Stadt. Und am Ende, wenn man dann in sein kaltes Hotelbett sinkt, immer das Gefühl leichter Enttäuschung“. Einige der 14 Berichte fallen entsprechend knapp aus. Zu drei Tagen Paris im Juni 2012 notiert Ruge auf insgesamt sieben Zeilen nur, dass ihm alles eng und klein erschienen sei. Auch bei einem zweiten Anlauf, als er nach dem enttäuschenden und schlecht besuchten Literaturfestival von Aix-en-Provence in einem klapprigen TGV nach Paris fährt, kommt ihm dort alles nur eng, teuer und uninteressant vor.

Da der größere Teil der in Annäherung versammelten Texte aus Notizen von solchen oft hektischen Lesereisen besteht, maßt sich Ruge nie abschließende Urteile über die mehr oder weniger fremden Städte und Kulturen an, die er zwischen zwei Terminen oft nur sehr flüchtig sehen kann, sondern vermittelt vor allem seine eigene Verwunderung, Verwirrung oder Befremdung. Eine wiederkehrende Erfahrung, ob in den verschiedenen europäischen Städten, in den USA oder in China, wird ausgelöst durch das, was Ruge als die „Gleichschaltung durch […] den Euro“ oder als die „Gleichschaltung der Welt nach Kriterien des Marktes“ bezeichnet.

In solchen Momenten wird auch die Verbindung zu In Zeiten des abnehmenden Lichts greifbar, weil Ruge seine Reiserfahrungen als privilegierter Erfolgsautor immer vor dem Hintergrund dessen reflektiert, was ihm in seinen Zeiten als DDR-Bürger bis 1988 oder danach als materiell weniger abgesicherter Westdeutscher vor dem großen Romanerfolg an Reisen möglich war. Die ersten beiden Texte, die in Annäherung aufgenommen sind, stammen zudem noch aus der Entstehungszeit des Romans und berichten über eine Russlandreise im Jahr 2005 und eine Mexikoreise zwei Jahre später, beide auf den Spuren seiner Eltern und Großeltern zu Recherchezwecken für den Familienroman unternommen.

Die verschiedenen Zeitebenen überlagern sich besonders bei Ruges Russlandreise von 2005, bei der er dreißig Jahren nach seiner letzten Moskaureise zum ersten Mal die Stadt unter den Bedingungen des ungebremsten Kapitalismus besucht, Wörter wir „Jackpot“ oder „Hit“ nun zum ersten Mal in kyrillischen Buchstaben geschrieben sieht, und dazu über die Werbung für die Gewinner des neuen Systems stolpert: „Wann fahren Sie endlich Ihren Bentley?“

Alle anderen Reisen haben zwischen April 2011 und Oktober 2013 stattgefunden und bieten einen oft amüsanten Einblick in die Maschinerie der deutschen internationalen Literaturförderung mit den immer gleichen Abläufen zwischen Goethe-Institut, örtlicher Germanistik und gegebenenfalls der deutschen Botschaft, bei denen Ruge sich meist sehr deplatziert vorkommt. Völlig uneitel notiert er, wenn zu Lesungen nur vier oder fünf Zuhörer erscheinen oder sein Buch in einer griechischen Buchhandlung neben den Bergen von Shades of Grey untergeht.

Neben den Kurz- und Kürzestreisen, bei denen kaum Zeit für ein ruhiges Abendessen bleibt, gibt es aber auch noch ein paar längere Aufenthalte auf Kuba, in Griechenland, in China und in den USA, die Gelegenheit zu ausgiebigerem Tourismus bieten. Ruge interessiert sich immer besonders für die politischen und sozialen Verhältnisse der Länder, die er bereist und bemüht sich um statistisches Material zu Einkommensverhältnissen oder Bevölkerungsdichte. Besonders interessant sind deshalb die Berichte über die Reise durch das bereits krisengebeutelte Griechenland im Frühjahr 2013 und durch Teile Chinas wenige Wochen später.

In den USA hat Ruge Gelegenheit, seine DDR-Erinnerungen an die Kubakrise, die er als Jungpionier miterlebt hat, mit denen seines amerikanischen Übersetzers abzugleichen, oder mit einem anderen ehemaligen DDR-Bürger, der mittlerweile als Historiker an einer New Yorker Universität lehrt, in einem koreanischen Restaurant in New York über die Ungerechtigkeiten und Lügen des amerikanischen Kapitalismus zu schimpfen und dabei festzustellen, dass das eben doch einen gewissen Fortschritt bedeute und dass es ihm eigentlich ausgesprochen gut gehe.

Die Lesereisen in ferne Länder führen aber auch immer wieder zu Vergleichen, die Ruge trotz ihrer scheinbaren Provinzialität notiert und die gerade deshalb diesen Aufzeichnungen etwas erfrischend Unstilisiertes verleihen. „Ach, wie schön ist doch Berlin“, schreibt er, als ihm Chicago besonders hässlich erscheint, und zu den Vorzügen von San Francisco und Manhattan gehört für ihn, dass man sich dort bisweilen wie in Berlin vorkommen kann. Ebenso ist ein Sonnenuntergang auf Rügen im Zweifelsfall schöner als einer über der mexikanischen Pazifikküste, und eine orthodoxe Prozession vor dem griechischen Nationalfeiertag erinnert an den 1. Mai in der DDR.

Annäherung vermittelt einen aufschlussreichen Einblick in die Vermarktungsroutinen, die um einen Bestseller wie In Zeiten des abnehmenden Lichts ablaufen. Außerdem erhält man einen Eindruck von den sehr unterschiedlichen Lesarten, die das Publikum zwischen der amerikanischen Westküste und der chinesischen Ostküste dieser DDR-Familiengeschichte abgewinnen kann. Man darf sich als Leser freuen, dass Ruge bei seinen vielen Lesedienstreisen zu In Zeiten des abnehmenden Lichts noch die Zeit für diese oft nur sehr knappen Notizen gefunden hat, und auch darüber, dass er ihnen das Notizenhafte nicht nachträglich ausgetrieben hat. Am 2. November 2015 liest Ruge in Potsdam, nun aber aus Annäherung.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Eugen Ruge: Annäherung. Notizen aus 14 Ländern.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015.
189 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498058005

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