Im Kopf von Peter Pan

Auf der Suche in Laura Rubys „Bone Gap“

Von Jonas ThiessenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Thiessen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist “Bone Gap“ für ein Buch? Ein Märchen, eine Fabel, eine realistische Erzählung oder ein Krimi? Nichts davon und doch alles zugleich. Zuallererst ist Bone Gap ein kleines Dorf, in dem jeder jeden kennt. Die Gemeinschaft lästert, liebt, lebt und leidet wie Menschen es halt tun. Doch eines Tages taucht eine geheimnisvolle Frau auf. Schnell gewinnt sie das Vertrauen und die Liebe des Dorfes. Doch wenige Monate nachdem sie aufgetaucht ist, verschwindet sie wieder. Alle wissen, dass Bone Gap in seiner ländlichen Einfachheit kein Zuhause für eine weltgereiste Frau ist. Sie wissen, dass sie sie nicht bei sich halten konnten, und sie wissen auch, dass sie nicht wiedergefunden werden will. Alle außer einem: ein verlachter, verträumter Junge weigert sich zu akzeptieren, dass diese Frau freiwillig gehen würde. Er macht sich als einziger auf die Suche nach ihr. Diesen Plot der verlorenen Schönheit kennen wir alle, wir wissen, was wir zu erwarten haben, wie sich die Geschichte entwickeln wird und wir wissen, wie alles enden muss, es gibt mit diesem Stoff keine Überraschungen mehr zu konstruieren… und Laura Ruby bewies das Gegenteil. Stück für Stück zerfrisst der Verlauf der Geschichte alle Erwartungen und Vorurteile. Bone Gap entpuppt sich als mehr als nur ein Dorf, die Maisfelder, die es umranden, verbergen undenkbare Geheimnisse und selbst die Dorfbewohner sind bewusst oder unbewusst eng mit dem Schicksal der Verschollenen verstrickt. Die Suche, die den Außenseiter antreibt, bringt ihn nicht viel weiter als an den Rand seines eigenen Dorfes und doch viel weiter als er es je erwarten hätte können.

Was „Bone Gap“ neben seiner Unberechenbarkeit auszeichnet, ist die Erzählweise. Die eigentliche Kinder- und Jugendbuch-Autorin erklärte, dass sie mit ihrem neusten Werk die Leidenschaft wiederfinden wollte, die sie einst zum Bücherschreiben führte. Genauso liest sich ihre Geschichte auch. Es ist eine verspielte und von außen unbelastete Erzählung, welche bittere Realitäten von Scheidung und Alltag mit Illusion verwebt. Die Welt von „Bone Gap“ steht nicht fest gerahmt und vordefiniert vor dem Leser, sie ist vielmehr lebendig, unergründbar und verändert sich dauernd, während er sie erlebt. Selbst der scheinbar allwissende Erzähler, der das Geschehnis beschreibt, wirkt nach wenigen Seiten doch nicht so allwissend. Er zweifelt an der eigenen Wortwahl, setzt alternative Formulierung und Ausdrücke fragend in Klammern und scheint alles in Echtzeit zu verarbeiten, um sich so einer flüssigen Wahrheit anzunähern.  Zusammen schaffen diese Elemente eine Grenzwelt zwischen Realität und Traum. Nie weiß der Leser in welcher er sich befindet, bis er aufhört sich zu fragen, was nun wirklich Wirklichkeit ist und was nicht. Und hier, an dieser Stelle, beginnt das Märchen.

„Bone Gap“ wirft den Leser in eine verflossene Welt zurück: eine Welt, in der Bilder der Wirklichkeit näher sind als Fakten. Die metaphorische Sprache sprüht mit einer kindlichen Logik, die wir alle mal kannten und längst vergessen geglaubt haben; eine bildliche, überrationale Logik, in der böse Menschen große Zähne haben und Gedanken matschig werden können. Laura Ruby gebiert kein neues Aschenputtel und keine Rapunzel, und auch die suchende Hauptfigur ist nicht mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet, sondern ihre Protagonisten sind so sehr Mensch wie Ihrer Leser. Sie sind natürlich und doch eigen, ihre Konflikte persönlich und universell zugleich. Die Gedanken, die sie plagen, antreiben, die Zweifel, die sie belasten, alle haben wir mit ihnen geteilt. Wir leiden mit, weil wir selbst gelitten haben. Wir spüren die klammen Hände, die der Erzähler beschreibt, weil wir sie auch vom ersten Kuss her kennen. Wir wissen genau, was es bedeutet, Angst vor dem Alleinsein zu haben. Wir waren da, und in „Bone Gap“ sind wir es wieder.

Laura Rubys Werk ist eins der Widersprüche. Obwohl es bestechend einfach ist, hat es eine unergründbare Tiefe. Es ist wehmütig, ohne schwermütig zu sein, und es ist traurig, weil es schön ist. Doch die eigentliche Dynamik des Buches entsteht durch den Leser, denn er wird beim Lesen daran erinnert, was er alles verloren hat, indem er seine Kindheit aufgab. Laura Ruby hat mit einem alten Plot und einfachster Sprache ein schmerzhaft-nostalgisches Kunstwerk geschaffen, ein von Klischees und Kitsch bereinigtes Märchen der Gegenwart. Wer vergessen hat, dass ein Buch Lebenslust wecken kann, und wer sich nicht scheut einfach mal zu lesen, um zu lesen, der wird es genießen, in der Welt von „Bone Gap“ zu versinken.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Laura Ruby: Bone Gap.
HarperCollins Publishers, New York, NY 10022 2015.
368 Seiten, 13,29 EUR.
ISBN-13: 9780062317605

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