„Warte ab, was kleben bleibt“

Jonathan Franzen behandelt in „Unschuld“ zeitgenössische Archetypen und sehnt sich immer noch nach dem 19. Jahrhundert

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jonathan Franzen ist angetreten, um die Literatur zu retten. Als der bis dahin leidlich erfolgreiche amerikanische Autor 2002 seinen Roman „Die Korrekturen“ veröffentlichte, gelang ihm ein Erfolg, der in der jüngeren Literaturgeschichte nicht nur seinesgleichen sucht, sondern zudem eine Debatte um die Zukunft der Literatur initiierte. „Die Korrekturen“ war, wie auch der Nachfolgeroman „Freiheit“, ein mächtiger Wälzer, in dem geschickt die einzelnen Erzählfäden ausgelegt und, auf stilistisch simple aber stets elegante Weise, nach und nach wieder zusammengeführt wurden. Das Ergebnis war ein Roman, der dem Leser eine Totalität präsentierte, die seit der Moderne verloren geglaubt schien. Tatsächlich sind Franzens Romane perfekt konstruiert und stehen in der Tradition des Realismus, sie erinnern nicht von ungefähr, wie Kritiker immer wieder gerne anmerken, an die monumentalen Werke von Charles Dickens oder Leo Tolstoi. Nicht nur, weil der im Roman eingeschlossene Mikrokosmos ebenjene Totalität repräsentiert, sondern weil er gleichzeitig ein Spiegel der Gesellschaft ist, der anhand leicht in die Realität übertragbarer Archetypen die Geschichte des zeitgenössischen Amerikas erzählt. Und weil Franzens Romane vor allem in Deutschland bei Kritik und Lesern euphorisch gefeiert werden, ist es naheliegend, dass in „Unschuld“ nun auch die Geschichte Deutschlands, genauer gesagt der DDR und der Wende, ein zentrales Thema ist. Dieses kommt, auf typisch Franzensche Art, mit einem solchen Ausmaß an erzählerischer Präzision daher, dass einem beim Lesen angesichts eines solch bruchlosen, in sich stimmigen Weltbilds ganz schwindelig wird.

Doch braucht man im Jahr 2015 diese Art von Literatur wirklich? In seinem viel beachteten Essay „Reality Hunger“ hat sich der amerikanische Kulturwissenschaftler David Shields explizit mit der Sehnsucht des zeitgenössischen Menschen nach ‚Realität‘ auseinandergesetzt, die in einer immer virtueller werdenden Welt zunehmend abhandenkommt. So begründet Shields den Siegeszug der ‚Scripted Reality‘ mit dem Verlangen der Menschen, unter dem Deckmantel einer offensiv gefälschten Realität belogen zu werden: Das, was wir sehen, sind tatsächlich Menschen wie du und ich, die nicht schauspielern können und die in gewisse Situation getrieben werden, die sie zwar eventuell auch so erleben würden, aber nur aufgrund des künstlich gesetzten Rahmens auf eine bestimmte, von Produktionsseite gesteuerte Weise zu bewältigen in der Lage sind. Der Zuschauer ist sich dessen bewusst, nimmt den Figuren ihre Natürlichkeit jedoch ab, erfreut sich daran, keinen professionellen Schauspielern dabei zuzusehen, wie sie ein von dritter Hand geschriebenes Drehbuch nachspielen, sondern den vorgeblich natürlichen Reaktionen von Menschen, die in ihrem ureigenen Milieu eben die Probleme zu lösen versuchen, die sie eben so haben. Dass das ganze nach 30 Minuten dann zu einem runden Schluss inklusive Cliffhanger kommt, gerät nicht zum Widerspruch, sondern zu einer subtilen produktionstechnischen Beeinflussung tatsächlicher Verhältnisse.

Literatur, wie sie Franzen schreibt, funktioniert auf eine ähnliche Weise. Sein Ton ist direkt, wenig verschnörkelt, seine Sätze präzise. Die Struktur seiner Bücher nähert sich der Perfektion, wenn es denn so etwas geben kann. Aus einer anfangs kleinen Geschichte entfaltet er ein gigantisches Panorama, ein Sittengemälde unserer Zeit, das global zu werden scheint, um dann doch, am Ende, wieder im Kleinen, Intimen, Familiären zu enden, mit dem sich jeder identifizieren kann. Die Allegorie ist überdeutlich, zumal sie sich schon über mindestens drei dicke Bücher erstreckt: Jeder Mensch hat eine persönliche Geschichte, doch diese reflektiert gleichzeitig das Universelle. Die zwischenmenschlichen Konflikte, die in Franzens Büchern ausgetragen werden, sind gleichzeitig auch universelle Konflikte; die Figuren sind, bei all ihren Schrullen, auch Jedermänner und -frauen, so dass der Leser sich in ihnen gespiegelt sehen kann. Und die Aufarbeitung dieser persönlichen Geschichte funktioniert nach einem geschickt austarierten Kompositionsprinzip, bei dem zum Ende hin alle Fäden zusammenlaufen; nicht überraschend, sondern nach und nach. Am Ende steht, etwas pathetisch ausgedrückt, ein perfekt geordnetes Universum, in dem jede Handlung ihre Entsprechung, jede Tat ihre Reaktion und jede Schuld ihre Erlösung einfordert und bekommt. So einfach ist es. Das ist der Trick.

Dass unsere Welt selbstredend nicht so geordnet ist wie ein Franzen-Roman, dass gerade die Darstellung der Brüche, des Chaos, der Zerrissenheit, ein Verdienst der Moderne und Postmoderne sind, lässt Franzen und seine Bewunderer – allen voran der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann – ziemlich kalt. Franzen möchte gar nicht der nächste Joyce oder Pynchon sein, er schreibt in der Tradition des Realistischen Romans als hätte es nichts anderes gegeben, er schert sich nicht um die Unmöglichkeit linearer Lebensgeschichten, und wer will es ihm verübeln? Konstruieren wir uns nicht selbst im Laufe unseres Lebens eine narrative Identität, die sich an den Mustern des Romans im 19. Jahrhunderts orientiert? Und braucht es zur künstlerischen Abbildung einer Gesellschaft nicht eben das erprobte Mittel des Gesellschaftsromans? Ist nicht gerade das, was Franzen da schreibt, die mythische ‚Great American Novel‘ von der jeder amerikanische Schriftsteller träumt, sie zu komponieren?

Was soll man über „Unschuld“ Schlechtes sagen – einem perfekt konstruierten Roman mit dreidimensionalen Figuren, die einem schnell ans Herz wachsen, ausgestattet mit einer flotten, spannenden Handlung, die aber auch in ihren reißerischsten Momenten dem großen Ganzen dient? In dessen Mittelpunkt die vielleicht interessanteste Figur unserer Tage steht, der Whistleblower, dessen Rolle sowohl konkret als auch metaphorisch behandelt wird? Es gibt Leitmotive, die den Roman beherrschen und ihm als roter Faden seine intellektuelle Struktur geben. Es ist ein Roman, den man nicht weglegen will, dessen 830 Seiten wie im Flug vergehen, und der zum Nachdenken anregt, über das Politische und über das Persönliche. Man sucht Anknüpfungspunkte zum eigenen Leben und findet sie, man glaubt globale Zusammenhänge ein Stückchen besser verstehen zu können. Und doch: „Unschuld“ ist nicht zwingend ein gutes Buch, weil es eben einen Verrat an der Kunst darstellt. Zumindest dann, wenn man ein Kunstverständnis hat, das die Weiterentwicklung, das ständige Hinterfragen von Normen und Werten, den Mut, das Unerwartete zu tun als dem Kunstwerk zentral ansieht und damit den Stillstand und den Rekurs auf frühere Formen als reaktionär ablehnt.

Worum geht es eigentlich? Nach ihrem College-Abschluss sitzt Purity Tyler auf ihren Studienschulden, ist mit einer besitzergreifenden, paranoiden Mutter, die seit Jahrzehnten ihre Umgebung nicht mehr verlässt, gestraft und wohnt in einem besetzten Haus mit einem Schizophrenen. Bis eines Tages ein deutsches Pärchen einzieht und die unbedarfte Außenseiterin Purity für ein hochdotiertes Praktikum beim ominösen ‚Sunlight Project‘ gewinnen will, eine an WikiLeaks angelehnte Aufdeckungsplattform, die aus dem bolivianischen Dschungel heraus von einem mysteriösen ehemaligen DDR-Bürger namens Andreas Wolf geleitet wird. Da Puritys Mutter ihr seit jeher jegliche Information über ihren verschollenen Vater vorenthält, macht sie mit dem Whistleblower Wolf, der sie aus zunächst unerklärlichen Gründen nach Bolivien locken will, einen Deal: Sie arbeitet für ihn, dafür hilft er ihr, ihren Vater zu finden. Von hier aus entfaltet sich eine zwar auf den ersten Blick hanebüchene, aber in sich doch stimmige Handlung, anhand derer Franzen sein zentrales Thema – die Schuld, die Menschen im Laufe ihres Lebens auf sich laden und wie diese ihr Dasein überschattet – abhandelt. Was zunächst absurd anmutet, ergibt im Laufe des Romans nach und nach Sinn; nicht zuletzt, weil Franzen, klug wie er ist, die globale Macht des Internets als Spielbrett gewählt hat. Im Netz kommt alles irgendwie, irgendwann zusammen, und genau so funktioniert auch sein Roman.

Doch diese scheinbar innovative Haltung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Unschuld“ ein zutiefst konservativer Roman ist, der sich, wie bereits „Die Korrekturen“ – immerhin einer der ersten literarischen Texte, der die E-Mail zum bedeutungstragenden Element der Narration gemacht hat – und „Freiheit“ bei den Errungenschaften der modernen Welt bedient, um diese in den Kontext einer literarischen Ästhetik zu setzen, die im 19. Jahrhundert verankert ist. Genau dafür wird dieser Autor gelobt, dafür wird er geschätzt, dafür muss er sich aber auch kritisieren lassen. Manchmal allerdings entgleitet selbst dem so stilsicheren Franzen seine Geschichte. Es sind vor allem seine Sex-Szenen, die einen wahrscheinlich so nicht gewollten Fremdschämeffekt evozieren, und leider ist es genau eine solche Sex-Szene, die letztlich das Rätsel des Buches auflöst, und diese – die hier aus Spoiler-Gründen verschwiegen werden soll – ist ebenso unappetitlich wie albern. Unweigerlich muss man an Boris Beckers Besenkammer-Legende denken, von der sich der Autor möglicherweise hat inspirieren lassen. Vielleicht hat sein Freund Daniel Kehlmann ihm ja die Anekdote um den berühmten deutschen Tennisspieler erzählt.

Einer näheren Betrachtung wert ist jedoch die Figur des Whistleblowers als postmoderner Archetyp, dem Franzen wohl als erster Schriftsteller die große Bühne bereitet. Ob man jenen Andreas Wolf als Figur nun glaubwürdig oder hemmungslos überzeichnet (denn das ist er, vor allem, wieder einmal, aufgrund seiner Libido) findet, ist erst einmal zweitrangig. Als Archetyp funktioniert er, und an ihm bemerkt man auch die immer wieder durchscheinende Genialität dieses Autors, die weniger auf seinen Rettungsversuchen der Literatur des 19. Jahrhunderts fußt, wie uns Kehlmann und unzählige Kritiker glauben lassen wollen, sondern vielmehr darin, wie es ihm gelingt, seine keineswegs neue Thematik durch die Inklusion der archetypischen Erscheinungen unserer Zeit in ein neues, metaphorisches Licht zu stellen. Der Whistleblower zerstört die Intimität des Geheimnisses, er legt Schuld offen, gleichzeitig befleckt er sich während dieses Prozesses selbst und lädt im Gegenzug Schuld auf sich. Es ist ein altes Prinzip – ein Weiterführen der Stasi-Methoden, unter denen Wolf aufwuchs und litt (als Funktionärssohn allerdings von Repressalien verschont blieb) unter anderen Vorzeichen, das macht Franzen seinem Leser überdeutlich. Und neben all jenen Familiengeschichten, Schuldtragödien und Ehedramen führt er mit diesem Roman vor allem einen Feldzug gegen das Internet, und gerade dieser Nebenaspekt ist es, der „Unschuld“ dann doch zu einem großen Buch macht. Der Autor zeigt in Gestalt der redlichen Enthüllungsjournalisten Tom und Leila – nicht zufällig die Figuren, die in seinem Buch charakterlich am besten wegkommen – was er von dem erschreckenden Trend hält, Informationen aus dem Internet als letzte Weisheit anzusehen. Er sieht das Netz als chaotischen Ort, an dem jeder sich seine Informationen dort herauspickt, wo er sie finden möchte, wo man der Enthüllung eines einzelnen angeblichen Whistleblowers mehr Glauben schenkt als einer gut recherchierten und durch den redaktionellen Filter gejagten journalistischen Geschichte, die dann als Ergebnis der ‚Lügenpresse‘ abgetan wird. Und so ist es ein Interview mit Leila, das den Whistleblower endgültig aus der Fassung bringt und zu seinem finalen Feldzug antreibt.

Die [das Sunlight Project und WikiLeaks] haben die primitive Naivität eines Jugendlichen, der glaubt, Erwachsene seien Heuchler, weil sie filtern, was ihnen über die Lippen kommt. Filtern ist nicht unehrlich – es ist zivilisiert. […] Und Andreas Wolf bildet sich so viel auf seine schmutzigen Geheimnisse ein, dass er die ganze Welt für eine Anhäufung schmutziger Geheimnisse hält. Schmeiß einfach alles an die Wand wie ein Vierjähriger sein Kacka und warte ab, was kleben bleibt.

Allein diese Passage ist die Lektüre wert; jeder sollte sie auf Facebook teilen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 27.10.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jonathan Franzen: Unschuld. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015.
830 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783498021375

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