Von einem kleinem Land

Gedanken zu 25 Jahren Wiedervereinigung

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1989 in dem kleinen Land, das sich Deutsche Demokratische Republik nannte, die Bürgerinnen und Bürger den zivilen Aufstand probten, gerieten für die meisten Menschen in der Bundesrepublik völlig unerwartet vergessene Städte und Landschaften wieder ins Blickfeld, die Leipzig, Dresden, Rostock, Weimar hießen oder sich „Berlin, Hauptstadt der DDR“ nannten. Klingende Namen für die wenigen, die sich noch einen Rest Erinnerung bewahrt hatten. War nicht Weimar die Stadt der Klassiker, in der auch Johann Wolfgang von Goethe gelebt hatte? Und warum nannte man eigentlich die Republik in den Jahren von1918 bis 1933 „Weimarer Republik“? Kaum noch jemand kannte wirklich die Städte, Landschaften und die Menschen, die dort lebten. Sachsen, Thüringen, Brandenburg – war das einmal Deutschland?

Die ewig greise Führung des kleinen Landes wollte einerseits das andere und bessere Deutschland entstehen lassen, mochte andererseits aber nicht dauernd an das ‚alte‘ Deutschland denken, geschweige denn an eine Idee von „Wiedervereinigung“. Dieser Begriff, mit dem man im Westen formal einem Anspruch auf Einheitsdeutschland aufrechterhielt, während sich in der Realität kaum noch jemand dafür interessierte, war für die DDR-Führung eine latente Bedrohung. Anfangs war man das Thema noch mit sozialistischem Optimismus angegangen: Stolz sang man in den ersten Jahren der Republik die „deutsche Nationalhymne“ zur Musik Hans Eislers und einem Text von Johannes R. Becher: „Auferstanden aus Ruinen/ und der Zukunft zugewandt,/ laß uns dir zum Guten dienen,/ Deutschland, einig Vaterland“. Das war ein gesamtdeutsches Zeichen, dem der Westen nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Dort stimmte man erst nach vielem Hin und Her mit verdruckster Miene „Einigkeit und Recht und Freiheit/ für das deutsche Vaterland“ an, aber zuweilen erklang – wie aus Versehen – auch immer mal „Deutschland, Deutschland über alles“. Das kleine Land war da deutlich mutiger.

Aber als das mit dem Sozialismus in den folgenden Jahren doch nicht so voranging, wie erhofft, und statt seines Sieges ein Kalter Krieg auf Dauer die beiden deutschen Staaten in Ost und West getrennt zu haben schien, verabschiedete man sich vom „einig Vaterland“. Fortan wurde die Hymne der DDR nur noch instrumental gespielt. „Deutschland, einig Vaterland“ sang man nicht mehr. Allmählich, so hoffte man in den Greisengremien von Partei und Staat, würde es aus dem Bewusstsein verschwunden sein. Wie auch die einstmals deutschen Länder, deren Wiedergründung nach 1945 die Sowjets noch eingeleitet hatten. Im Interesse eines neuen sozialistischen Staatsaufbaus hatte man sie aufgelöst: Sachsen, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und die ehemals preußischen Provinzen Brandenburg und Sachsen-Anhalt gab es nun nicht mehr. Aufgeteilt war das kleine Land nun in 14 Bezirke. Wo also lag Weimar? Nicht in Thüringen, sondern im „Bezirk Erfurt“.

Um aber bis 1989 in den Bezirk Erfurt einreisen zu können, musste ein interessierter Bundesbürger beträchtliche Mühen auf sich nehmen. Das kleine Land pflegte einen überbordenden  Bürokratismus auf allen Ebenen staatlichen Handelns. Gestempelte Dokumente und die Würdigung derselben durch strenge Beamte waren von ungeheurer Bedeutung und vermittelten eine Obrigkeit, die dem westdeutschen Zeitgenossen, der sich ihr ausgesetzt sah, mehr verwunderte als beängstigte. Das gab es wirklich noch? Grimmige Grenzbeamte mit Waffe im Anschlag, unnahbare Volkspolizisten und systematisch schlecht gelaunte Beamte in überheizten Amtsstuben – alle traten in jener martialischen Manier auf, die einmal Kennzeichen des deutsch-preußischen Obrigkeitswahns waren, wie ihn schon Heinrich Mann im „Untertan“ vorgeführt hatte. Und wohnte nicht auch dem Auftritt der Staatsmacht in jenen letzten Jahren des kleinen Landes ein ähnliches Moment der Lächerlichkeit inne? Eine bängliche Verunsicherung war bei den Amtsträgern jedenfalls immer spürbar, eingebettet in einen tiefsitzenden kollektiven Minderwertigkeitskomplex, der – einmal mehr – durch formalisierte Autorität kompensiert werden sollte. Was eignete sich dazu besser – auch darin erinnerte das kleine Land bis zuletzt an ein ehemaliges Deutschland – als ein schneidiges Militär? Niemand praktizierte den preußischen Paradeschritt, den Stechschritt, so perfekt wie die Wachsoldaten in Ostberlin.

Das kleine Land war grotesk überbewaffnet. Ende der 1980er-Jahre, so erfährt man in dem von Rüdiger Wenzke, Historiker beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, herausgegebenen Band „,Damit hatten wir die Initiative verlorenʻ. Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90“, kam „auf 43 DDR-Bürger ein hauptamtlicher Waffenträger“. Von ihnen gehörten 187.440 der Nationalen Volksarmee (NVA) an, die Grenztruppen der DDR zählten 39.600 Mann, das Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ des Ministeriums für Staatssicherheitsdient (MfS), benannt nach dem Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka, zählte 10.180 Waffenträger. Weitere 10.728 Mann waren den 21 Volkspolizei-Bereitschaften zugeteilt. Damit nicht genug: Im Fall des Falles sollten die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ – auch „Betriebskampfgruppen“ genannt – die Vorherrschaft des Proletariats verteidigen. Was für eine Aufgabe! Und von wem genau drohte jetzt Gefahr für die arbeitende Klasse? Etwa von den eigenen Bürgerinnen und Bürgern, die den Aufstand probten?

Das hatte das kleine Land schon einmal erlebt. Woraufhin damals, 1953, Bertolt Brecht den Regierenden in dem Gedicht „Die Lösung“ empfohlen hatte : „Nach dem Aufstand des 17. Juni / Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands / In der Stalinallee Flugblätter verteilen / Auf denen zu lesen war, daß das Volk / Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe / Und es nur durch verdoppelte Arbeit / Zurückerobern könne. Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?“ Sie tat es nicht, und nun stand da wieder dieses aufmüpfige Volk und demonstrierte. Die Beiträge in Wenzkes Band beschreiben, dass weder Nationale Volksarmee, noch die paramilitärischen „Volkspolizei-Bereitschaften“ und die „Kampfgruppen“ wussten, was zu tun sei. Sie reagierten desorientiert und – in ihrer Logik – hilflos auf die Geschehnisse des zivilen Aufstandes. Ihre Hilflosigkeit bestätigte den ausgelaugten Charakter des gesamten Systems. Niemand wusste mehr, welch höheren Zielen man verpflichtet sein sollte. Die ewig gleichen Floskeln der alten Männer an der Spitze des kleinen Landes vom sozialistischen Fortschritt hatten längst alle Überzeugungskraft verloren. Wofür also die Waffen ergreifen?

Als man höheren Ortes darüber nachdachte, die Kampfgruppen gegen Demonstrierende in Leipzig und Dresden in Stellung zu bringen, verwahrten sich diese dagegen, als „Knüppelgarde“ missbraucht zu werden. Man brachte Einheiten der NVA in Stellung. Über einen solchen Einsatz, dessen tatsächliche Umstände Rüdiger Wenzke in einem Beitrag seines Bandes beschreibt, liest man in Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“. Der junge Christian Hoffmann, Soldat der NVA, wird im Oktober 1989 mit seiner Einheit zur Unterstützung überforderter Polizeikräfte, die am Dresdner Bahnhof tausenden Demonstranten gegenüberstehen, abkommandiert. Wie seine Kameraden zweifelt der Soldat am Sinn des Einsatzes, folgt aber dem Einsatzbefehl. Da entdeckt er unter den Demonstranten seine Mutter und sieht, wie sie von Polizisten zusammengeknüppelt wird. Er bricht zusammen. Der Einsatz ist beendet. Die Schwerter also waren stumpf. Zu Pflugscharen freilich wurden sie auch nicht …

Denn der demokratische Aufbruch der mutigen Bürgerinnen und Bürger des kleinen Landes mündete in der Wiedervereinigung mit einer Bundesrepublik, die zunächst schauen wollte, welche Schwerter eventuell doch noch zu gebrauchen wären. Solch krämerischer Eifer war Resultat der einige Jahre zuvor vom Kanzler ausgerufenen „geistig-moralischen Wende“. Sie propagierte eine kleinkarierte Besitzstandswahrung gegen alle möglichen imaginierten Bedrohungen – seien sie von links anrückend, von ‚Fremdenfluten‘ ausgelöst oder von ‚Asylanten‘ bewusst intendiert. Bestens schuf die geistig-moralische Wende Voraussetzungen für die neoliberale Ideologie von der Freiheit des Profits. Aus der aufgeklärten Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die einstmals den demokratischen Rechtsstaat konstituierte, filterte diese Ideologie die Gleichheit und Brüderlichkeit aus, so dass nur die Freiheit, eine spezielle Freiheit des globalen Wirtschaftens, übrig blieb – ohne hinderlich regulierende Eingriffe eines Staates: eine Freiheit von der Politik! Und genau so interpretierte man den Bürgeraufstand in dem kleinen Land: nicht als Befreiung von den Zumutungen einer grotesk-sozialistischen Altherrenherrschaft, sondern als Eroberung der Freiheit zum Kapitalismus. Woraus folgte: Kein eigener Weg! Kin neuer demokratischer Sozialismus! Übernahme des Kapitalismus! Beitritt des kleinen Landes zur BRD! Integration seiner Institutionen, auch Armee und Polizei, in die bundesrepublikanischen Strukturen!

Es hätte auch die andere Option gegeben: die Beendigung des Provisoriums Grundgesetz und die Wiedervereinigung mit einer neuen Verfassung. Tatsächlich Schwerter zu Pflugscharen … Das wäre ein anspruchsvoller Weg gewesen – indes mag man sich angesichts der von den Anforderungen der geistig-moralischen Wende vernebelten Politikerhirne und einer blind besoffenen Wiedervereinigungseuphorie gar nicht vorstellen wollen, was in eine neue deutsche Verfassung alles Eingang gefunden hätte. Dann vielleicht doch erst einmal weiter mit dem bescheiden bewährten Provisorium Grundgesetz …

„Günter, der Zug ist abgefahren!“ argumentierte in jenen Tagen vor Fernsehkameras gestenreich ein erregter Rudolf Augstein im Gespräch mit Günter Grass, der vergeblich Argumente gegen die forsche DDR-Vereinnahmung vorzubringen gedachte. Einheit über alles? Jetzt und sofort! Auf den Demonstrationen in Leipzig und anderswo rief man jedenfalls nicht mehr „Wir sind das Volk“, sondern es dröhnte laut und fordernd „Wir sind ein Volk“. Vorsänger waren nicht selten aus der Bundesrepublik kommende ‚Gäste‘, die aus den Kofferräumen ihrer Autos massenweise deutschnationales Propagandamaterial hievten, um es an die Demonstranten zu verteilen. Und so folgte auf die demokratische „Wende“ der verordnete Mauerfall und plötzlich war sie da, die Wiedervereinigung. Aber wie kleinkariert und missmutig wurde sie umgesetzt. Nicht die idealistischen Protagonisten der Wende bestimmten den Wiedervereinigungsalltag, sondern smarte Wessis und bieder-clevere Ossis, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort aus der Wiedervereinigung ein lohnendes Geschäft zu machen wussten. Lerne: Geiz ist geil, wenn er dir einen profitablen Vorteil bringt! Und Leute wie Enrico Türmer aus Ingo Schulzes Roman „Neue Leben“ lernten schnell. Türmer hinterließ bedeutungsschwere voluminös ausufernde Aufzeichnungen, die, wie der ‚Herausgeber‘ dieser Aufzeichnungen Ingo Schulze mitteilt, „das Panorama jener Zeit“ entfalten. Was für ein Panorama: eine Abfolge mittelmäßiger, freilich mit großer Geste gestalteter Ereignisse, an deren Ende der demokratische Aufbruch in der bundesrepublikanischen Normalität ankommt: Es muss sich rechnen! Wie es geht, damit es sich rechnet, das erklärt bereitwillig der Investor aus dem Westen. Türmer, beinahe Revoluzzer, beinahe Künstler, beinahe Journalist ist am Ende Herausgeber eines billigen Anzeigenblättchens. Dann Ende. Aus. Pleite. Tschüssikowski. War da was? Ja, Schulzes meisterlich konstruiertes Buch verrät uns wahrhaft viel über das kleine Land in diesen großen Zeiten und wie es einfach so verschwand …

Inzwischen ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Immer noch gibt es viele Bundesbürger, die ‚den Osten‘ aus eigener Anschauung nicht kennen. Immer noch sind die Lebensgeschichten, die man sich anfangs gegenseitig erzählen wollte, unerzählt. Und „Ost-West-Gespräche“ nach dem Motto „Was ich Dir immer schon mal sagen wollte“, wie sie Markus Decker im gleichlautenden Buch zusammengestellt hat, sind nach wie vor nicht selbstverständlich. Sind sie nötig? Deckers Gespräche mit mehr oder weniger prominenten Menschen, von denen man zuweilen gar nicht weiß, ob sie echte „Ossis“ oder „Wessis“ sind oder nur stellvertretend als solche auftreten, weil sie einen Job in Dresden oder Köln haben, beantworten diese Frage nicht eindeutig. Die hier zum Gespräch antreten, sind SchauspielerInnen, JournalistInnen, Kabarettisten, politische AmtsträgerInnen, DramaturgInnen, politische BildnerInnen, Militärs, WissenschaftlerInnen oder MusikerInnen. Sie alle haben die Wiedervereinigung als historische Chance begriffen, konnten und wollten sie in Berlin, Hamburg, Dresden, Rostock, Köln oder Leipzig kritisch begleitend gestalten. Aber in dem ehemals kleinen Land, dort, wo nach der DM-Euphorie bald schon wieder der Euro knapp wurde, leben die zurückgebliebenen Menschen, deren Geschichten bis heute nicht erzählt sind. Sie bergen einen eigenwilligen Teil der Geschichte des kleinen Landes und wie man in ihm lebte. Man wird sich diese Geschichten anhören müssen, wenn man ernsthaft die Einheit vollenden will.

Titelbild

Ingo Schulze: Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2005.
790 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3827000521
ISBN-13: 9783827000521

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Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
976 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420201

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Rüdiger Wenzke (Hg.): »Damit hatten wir die Initiative verloren«. Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90.
2., durchgesehene Aufl, Jan. 2015.
Ch. Links Verlag, Berlin 2014.
258 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783861538097

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Titelbild

Markus Decker: Was ich dir immer schon mal sagen wollte. Ost-West-Gespräche.
SP Wiedervereinigung DDR.
Ch. Links Verlag, Berlin 2015.
286 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783861538462

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