Der Kryptograf

Mai Jias Roman „Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong“ führt in die Welt der Zahlencodes und zu einem tragischen Helden

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rong Jinzhen ist Kryptoanalyst – und zwar der Beste von allen. In einem streng von der Öffentlichkeit abgeschirmten militärischen Objekt, der „Einheit 701“, grübelt er den jeweils neuesten Codes der Feinde seines Heimatlandes nach. Verheiratet ist er zwar, doch ein Privatleben hat er nicht. Den Code PURPUR, an dem sich alle anderen Analysten die Zähne ausbeißen, entschlüsselt er in Rekordzeit. Woraufhin Chinas Gegner den Code SCHWARZ ins Spiel bringen. Und wieder liegen alle Hoffnungen seiner unmittelbaren Vorgesetzten und der führenden Pekinger Genossen auf dem genialen Herrn Rong.

Mai Jia, 1964 in Fuyang als Jiang Benhu geboren, zählt zu den erfolgreichsten chinesischen Autoren der Gegenwart. Er gilt als der Begründer der chinesischen Spionageliteratur und eroberte mit seinen bisher sieben Romanen regelmäßig die Bestsellerlisten seines Heimatlandes. „Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong“ – im Original 2002 in Peking erschienen – ist das erste Buch des 52-Jährigen, das nach seiner Übersetzung ins Englische auch international für Aufsehen sorgte.

Bevor der Leser es mit Rong Jinzhen zu tun bekommt und die Handlung sich ganz auf dessen Kampf um die Entschlüsselung des Supercodes SCHWARZ konzentriert – einen Kampf, den er letzten Endes verlieren wird –, holt Mai Jia weit aus, um seinen Ausnahmehelden als Höhepunkt einer Familiengeschichte zu präsentieren, in der bizarr-geniale Charaktere die Regel zu sein scheinen. Bis ins 19. Jahrhundert blendet das Buch zurück, als in einer südostchinesischen Salzhändlerdynastie durch den Auslandsaufenthalt eines ihrer jüngeren Mitglieder Fortschritt, Aufklärung und Wissenschaft Einzug halten.

Angestachelt von seiner Großmutter – die ihren Enkel eigentlich nach Europa schickt, damit der sich in der Kunst der Traumdeutung üben soll, noch während dessen Überfahrt aber verstirbt –, verbringt Rong Zhilai sieben Jahre auf europäischen Universitäten. Als er schließlich unter seinem neuen, anglisierten Namen John Lilley heimkehrt, ist er ein anderer geworden: „Er hatte keinen Zopf mehr, trug eine kurze Jacke statt eines langen Seidenmantels, trank gerne blutroten Wein und mischte Worte in seine Rede, die wie Vogelgezwitscher klangen.“

John Lilley ist der erste Wisssenschaftler, den die Familie Rong hervorbringt. Wieder zu Hause gründet er eine „Akademie für Mathematik“, an der zur allgemeinen Entrüstung traditionell-konservativer Kreise auch Mädchen studieren dürfen. Später entwickelt sich diese Einrichtung zur Universität N., die bald zum Anziehungspunkt für Jünger der Rechenkunst aus aller Welt wird. Auch viele Angehörige des Rong-Clans lernen und lehren hier. Mit Rong Jinzhens Großmutter Youying, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere zusammen mit den Gebrüdern Wright das erste Flugzeug der Geschichte konstruiert und wegen ihrer Rechengeschwindigkeit den Beinamen „Abakus“ trägt, kommt schließlich die Großköpfigkeit in die Familie.

Rong Youying stirbt bei der Geburt eines Sohnes, den man ob seines riesigen Kopfes den „Teufelsschädel“ nennt und der eine veritable Verbrecherkarriere einschlägt. Dessen illegitimer Sohn schließlich, Resultat einer der zahllosen Vergewaltigungen, deren sich sein Vater schuldig gemacht hatte, ist Rong Jinzhen. Obwohl sie es sich zu der Zeit kaum leisten kann, nimmt die Familie das Kind des inzwischen selbst ermordeten Verbrechers in ihre Reihen auf. Und ahnt bereits wenig später, dass es sich bei dem ebenfalls mit einem übergroßen Kopf ausgestatteten Jungen um ein Genie handeln muss.

Dessen Geschichte, die in Verzweiflung und Wahnsinn enden wird, erzählt Mai Jia in den folgenden vier Teilen des Romans aus der Position eines Erzählers, der sich nach Rong Jinzhens Tod daranmacht, das Leben dieses Mannes aus den unterschiedlichsten Quellen zu rekonstruieren. Dazu zählen in den Text eingestreute fiktive Interview-Passagen mit Angehörigen der Familie Rong, militärischen Vorgesetzten aus der streng geheimen „Einheit 701“, seiner späteren Ehefrau Zhai oder seinem Leibwächter Vasili, der die Aufgabe hatte, den Mann, von dessen Genie die innere Sicherheit Chinas abhing, mit allen Mitteln zu schützen. Im letzten und abschließenden Teil des Romans schließlich präsentiert der anonyme Erzähler 90 Notizen aus jenem Notizbuch Rong Jinzhens, mit dessen Verschwinden der geistige Verfall des Kryptoanalysten beginnt.

„Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong“ verbindet Einblicke in die chinesische Historie der letzten 100 Jahre mit einer spannungsgeladenen Handlung und einem Figurenensemble, zu dem zahllose Charaktere zählen, denen man gern als Helden ihres je eigenen Romans wiederbegegnen würde. Vorerst aber haben sie sich der Geschichte eines so einsamen wie hochbegabten Helden unterzuordnen, eines Zahlengenies, dessen Aufstieg zu Chinas berühmtestem Kryptografen auch den Umstand mit sich bringt, dass Rong Jinzhen kein öffentliches Leben führen darf. Dass er schließlich weder an sich selbst noch an seinem Auftrag und den Auftraggebern scheitert, sondern ein nicht berechenbarer Zufall ihn in den Wahnsinn treibt, ist die Ironie einer Geschichte, die so gut erfunden wurde, dass sie beinahe wahr sein könnte.        

Titelbild

Mai Jia: Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong. Roman.
Übersetzt aus dem Chinesischen von Karin Betz.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
350 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046710

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch