Wer ist für 9/11 verantwortlich?

Karl Hepfer geht Verschwörungstheorien mit philosophischen Mitteln auf den Grund

Von Sebastian SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Serie South Park gibt es eine Folge, in der die Grundschüler mit einem fanatischen Verschwörungstheoretiker zusammentreffen. Dieser behauptet, Beweise gefunden zu haben, dass die Anschläge von 9/11 im Rahmen einer „false flag policy“ von der amerikanischen Regierung durchgeführt wurden. So konnte eine Legitimation für das profitable Manöver Irak II geschaffen werden. Die Jungs werden mit dem Verschwörer gemeinsam geschnappt und vor Präsident George W. Bush geführt. Von ihm persönlich erfahren sie, dass es sich nun bei der 9/11-Verschwörung wiederum um eine Verschwörung des Weißen Hauses handele, das dadurch auch die skeptischen Amerikaner kontrollieren kann. Die Antwort auf die Frage, wer nun „in Wahrheit“ die Türme und das Pentagon angegriffen habe, lautet lapidar: „a bunch of pissed-off moslems“.

„Wahrheit“ ist ja bekanntlich seit der Neuzeit eine philosophisch höchst fragwürdige Kategorie. Wenn Karl Hepfer in seiner „theoretischen Analyse der Struktur von Verschwörungstheorien“ systematisch den Gegenstand sondiert, verweist er deutlich auf die Verschränkung von Theorie und Wahrheit: Denn Theorien sind „vereinfachte Modelle der Wirklichkeit“. Als ein solches Modell ist die Verschwörungstheorie – ähnlich der Religion und der Esoterik – ein Ausdruck des Menschen, der sich in einer Welt des zerstörten Logosʼ einfache Deutungsmuster innerhalb bipolarer Gut-Böse-Oppositionen zurückwünscht. Hepfer legt den Schwerpunkt seiner Arbeit auf „theoretische Grundstrukturen“, mit deren Hilfe er philosophisches Handwerkszeug bereitstellen will, um zu entscheiden, „wie wahrscheinlich eine Theorie ist“. Dabei nimmt er Wiederholungen und thematische Überschneidungen zugunsten einer induktiven Systematik in Kauf. Am Ende stehen eine in ihrer Form innovative „Reihe interessanter Einsichten auch für unsere gewöhnliche Theoriebildung“ und die Erkenntnis, dass es „kein Argument [gibt], um [Verschwörungstheorien] pauschal zu widerlegen“.

Hepfers Verdienst ist es, einen Katalog von prägnanten Aussagen über Verschwörungstheorien erstellt zu haben, der systematisch einzelne Besonderheiten abarbeitet. Diese versucht er anschließend mit narrativen Beispielen zu visualisieren. Eine sehr starre Gliederung ist notwendig, um das thematische Gelände erstmalig philosophisch zu kartographieren, widerspricht aber der besonderen narrativen Leistung der einzelnen Verschwörungstheorien, mit sprachspielerischer Wissenschaftlichkeit „unsere Filter für unsinnige Erklärungen zu umgehen“. Diese Leistung wird gestreift, wenn Hepfer „rhetorisches Können, erzählerische Phantasie und Formulierungskunst“ erwähnt, die schlussendlich die korrumpierten Daten der Theorie zu einem harmonischen Bild amalgieren müssen. Philosophisch betrachtet hat diese Eigenheit aber hinter den epistemologischen Besonderheiten der Verschwörungstheorie zurückzutreten. Und an diesem Punkt werden die einzelnen plakativen „Beispieltheorien“ („Illuminaten“, „Stammheim“, „Nine/Eleven“, „Bielefeld“ et cetera), mit denen Hepfer sich rhetorisch den Theoretikern anzunähern versucht, paradox. Zwar bestimmt der Autor anfangs, dass diese Beispiele von denen, die „Gefallen an Denksportaufgaben“ haben (Philosophen?), übergangen werden können; doch stellt sich dann die Frage, was der eigentliche Mehrwert davon ist, dass sie gut die Hälfte des Bandes seltsam separiert einnehmen.

Vielleicht wird hier deutlich, wie bedeutend die rhetorische – man kann auch sagen literaturwissenschaftlich-texttheoretische – Seite der Verschwörungstheorien ist. Das Beispiel aus South Park zeigt, dass sich eine Erkenntnisleistung am besten direkt aus dem kreativen Material derivieren lässt. In diesem speziellen Szenario hält sich George W. Bush die wahrheitssuchenden Amerikaner durch die Realität eines terroristischen Akts sowie die Skeptiker durch die Streuung der vermeintlichen „false flag policy“ für seine politischen und ökonomischen Ziele an der kurzen Leine. Die Doppelung der Verschwörungstheorien visualisiert, wie diese erkenntnistheoretisch arbeiten, wie aus ihnen ein Mehrwert unserer eigenen Welterkenntnis ableitbar ist und wie die Suche nach der Wahrheit Schwankungen im Interesse nach sich zieht. Urplötzlich ist die Information über die Urheber von 9/11 irrelevant und wird durch ein Interesse an den Verschwörern aus dem Weißen Haus selbst ersetzt.

Verschwörungstheorien – auch wenn sie sich mit der Zeit als richtig entpuppen – sind sprachliche Gebilde von kreativen Köpfen und als solche literarisch-künstlerische Formen der Welterfahrung. Das bedeutet weder, dass Hepfers philosophische Kartei überflüssig ist, noch, dass Verschwörungstheorien alleine mit den Mitteln der Literaturwissenschaft erforscht werden können. Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt: „Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.“ Daraus folgt, dass ein Sprechen über erkenntnistheoretische Fragen stets nur über das Medium der Literatur/Kunst funktionieren kann, da sie sich als einzige ihrem eigenen lügenden Charakter bewusst ist. Hepfer versucht dies durch seine abgesonderten narrativen Kapitel, hätte aber vielleicht besser daran getan, sie in seine philosophische Kartei zu integrieren.

Auf gängigen Videoplattformen nachzusehen ist eine Szene, in der Buzz Aldrin von einem Mondlandungszweifler als „a coward and a liar“ beschimpft wird. Seine unmittelbare Reaktion zum Schock der Umstehenden und zum Amüsement der Online-Community ist ein prompter Faustschlag ins Gesicht des Skeptikers. Es gibt wohl keinen eindeutigeren Beweis für die Realität der Apollo-11-Mission als diese spontane Wutentladung. Und es zeigt sich, dass wohl auch Philosophie und Literaturtheorie nicht genügen, um das komplexe Gewebe Verschwörungstheorie zu entschlüsseln. Interdisziplinäre Kommunikation ist heutzutage wieder ein wissenschaftliches Muss. Je nachdem, ob Aldrins Schlag als Ausdruck von Wut oder Schauspieltalent zu werten ist, wird plötzlich die Diskussion mit Psychologie und Medienwissenschaften vonnöten.

Titelbild

Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft.
Transcript Verlag, Bielefeld 2015.
189 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783837631029

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