Klassiker in neuem Gewand
Zur von Gerd Eversberg herausgegebenen Leseausgabe des „Schimmelreiters“
Von Miriam Strieder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit Jahrzehnten stöhnen Generationen von Schülern unter der Pflichtlektüre: Theodor Storms „Schimmelreiter“ steht auf dem Plan. Die späte Novelle galt und gilt Deutschlehrern als Lesestoff, der Schülern gut zuzumuten ist, aber meistens wird der Text nur mit Widerwillen gelesen: Die Spukgeschichte des unheimlichen Reiters auf dem weißen Pferd ist mit zu viel Realismus aufgefüttert, um wirklich faszinierend zu sein – so zumindest die gängige Meinung aus der Sekundarstufe I oder II.
Storm hat in der Forschung, auch durch die Popularität der Assmann‘schen Theorien des kulturellen Gedächtnisses, neue Liebhaber gewonnen. Dissertationen und Monografien sind in den letzten Jahren wieder vermehrt zu seinem Werk erschienen und haben besonders die frühen Novellen in den Blick genommen. Den Freizeit-Leser der Storm‘schen Novellen wird das nicht zu einer erneuten Lektüre des Klassikers verführen.
Zu einer Leseverführung laden nun aber der Erich Schmidt Verlag und Gerd Eversberg ein. Sie haben der Novelle von 1888 ein neues, aufwendiges Gewand gegeben. Schon die liebevolle Gestaltung des Bandes animiert zum Blättern, Wiederlesen und Neuentdecken des „Schimmelreiters“: Zahlreiche, hervorragende Radierungen von Alex Eckener schmücken den Band in stimmungsvollen Sepia-Tönen, ohne sich dabei aufdringlich in den Vordergrund zu drängen und dem Text selbst Aufmerksamkeit zu entziehen. Die Kommentierung ist vielleicht etwas geografielastig geraten, aber der Text der Novelle und ihre Entstehungsgeschichte laden förmlich zum Schmökern in alten Karten der Umgebung von Husum ein. Viele, oftmals anschaulich illustrierte Informationen machen den Band zu einem Lesevergnügen, das mühelos die Zeit des Deichgrafen Hauke Haien und Storms eigene Lebenszeit auferstehen lassen. Gerade die Worterklärungen, leicht verständlich und präzise, werden dankbare Aufnahme finden. Vielfältige Informationen zum Deichbau an der Nordseeküste, Schwerpunkt Schleswig-Holstein, erläutern nicht nur den Inhalt der Novelle, sondern zeichnen auch Storms Recherchen nach und verdeutlichen seine Verbindungen zur Deichwartung rund um Husum, seine persönlichen Beziehungen in der Verwaltung Husums und erleuchten so das Leben des Dichters, ohne biografische Spekulationen anzustellen. Weiterhin werden Deutungsansätze zum Novellentext geliefert und verweisen auf aktuelle Publikationen.
An den Novellentext mit seiner Kommentierung an den Seitenrändern, ebenfalls in Sepia unterlegt und farblich abgesetzt, schließen sich Informationen zur Textüberlieferung und Entstehungsgeschichte an. Von besonderem Interesse ist hier der Abdruck der Schimmelreiter-Begegnung aus dem „Danziger Dampfboot“, die Storm für viele Jahrzehnte im Gedächtnis geblieben ist. Für den Leser ist auch das Nachleben der Schimmelreiter-Sage interessant, die sich nach Storms Novelle in mehreren Sagensammlungen findet und zum Schleswig-Holsteiner Volksgut wird, ohne eine historische Berechtigung dazu zu haben, spielt doch die Schimmelreiter-Begegnung des „Danziger Dampfboots“ an der Weichsel.
Im Anhang finden sich weiterhin Dokumente zur Arbeit am „Schimmelreiter“, die in Form einer übersichtlichen Zeitleiste die Entstehung des Texts nachzeichnen. Dabei wird ein Einblick gegeben in die Vorgänge von der ersten Idee zum „Schimmelreiter“ bis hin zur Veröffentlichung in der „Deutschen Rundschau“ im April und Mai 1888 und der Buchausgabe im Herbst des gleichen Jahres gegeben. Storm kommt immer wieder selbst zu Wort – innerhalb seiner Briefe und seines Tagebuchs –, aber auch Weggefährten, Freunde und Familie nehmen Stellung zum „Schimmelreiter“ und beleuchten so den Schaffensprozess von unterschiedlichen Seiten.
Ein weiteres Kapitel des Anhangs sammelt die Erkenntnisse zur Geografie des Textes, die eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Wie häufig in seinen Novellen greift Storm auch für den „Schimmelreiter“ auf eine detailliert ausgearbeitete Geografie zurück, die sich stark an den realen Gegebenheiten orientierte. Dabei verlieh er den einzelnen Elementen in seiner fiktiven Geografie eine tiefe Bedeutung und erzeugte dadurch eine ganz besondere Atmosphäre. Auch hier hat Eversberg ein sorgfältiges Quellenstudium betrieben und liefert viele Hintergrundinformationen, die allerdings teilweise repetitiv sind, da einiges bereits in der Kommentierung oder in den ersten beiden Kapiteln des Anhangs Erwähnung findet.
Das letzte Kapitel des Anhangs, das sich mit dem „Schimmelreiter“ beschäftigt, beinhaltet Informationen zur Rezeption und dem Nachleben der Novelle. Hier werden wichtige Forschungsergebnisse kurz skizziert und auch die drei Verfilmungen des Stoffs in den Blick genommen und eingeordnet. Leider gibt es nur kurze Verweise auf das Nachleben des „Schimmelreiters“ auf der Bühne. Unterhaltsam sind jedoch die drei Abdrucke des „Schimmelreiter“-Comics von 2010. Der Rezeptionsgeschichte schließen sich Informationen über den Illustrator des „Schimmelreiters“, Alex Eckener, an. Die Entstehungsgeschichte seiner Radierungen wird ebenso ausgeleuchtet wie eine kunsthistorische Einordnung seiner Illustrationen gegeben. Für interessierte Leser folgt eine umfangreiche Bibliografie, in die auch Storms Quellen zur Recherche aufgenommen sind.
Insgesamt ist Eversbergs Ausgabe ein informatives Lesevergnügen für den Storm-Liebhaber. Für den Unterricht, egal ob in der Schule oder an der Universität, ist sie nicht geeignet, aber eine bibliophile Edition will diesen Anforderungen auch gar nicht genügen. Der „Schimmelreiter“ erobert mit der kommentierten Leseausgabe seinen Platz auf der Leseliste für ungemütliche Herbst- und Winterabende, wenn der Wind an den Fenstern rüttelt und man in der guten Stube gerne mit leichtem Schaudern glauben möchte, dass draußen der Schimmelreiter vorüberreitet.
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