Gesundheit geht durch den Magen
Erträge einer interdisziplinären Tagung zum Verhältnis von Diätetik und Kulinarik im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit
Von Elena Parina
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der heutigen Zeit der Begeisterung für Diäten und gesunde Ernährung ist das Motto des Tagungsbandes aktuell und findet Resonanz beim Leser. Die interdisziplinären Beiträge ziehen vor allem textuelle, aber auch archäologische und bildliche Quellen zur Analyse der Vorstellungen heran, die den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen (Ernährungs-)Alltag prägten.
Der Band beginnt mit einem Geleitwort von Trude Ehlert, die für die Forschung der Kochrezeptliteratur einen maßgebenden Beitrag geleistet hat. Sie hebt verschiedene Perspektiven hervor, die während der Grazer Tagung ans Licht kamen und freut sich über das Interesse der Nachwuchswissenschaftler/innen am Thema.
Im Vorwort stellen die Herausgeber, Andrea Hofmeister-Winter, Helmut W. Klug und Karin Kranich, die grundlegende Idee des Zusammenhanges der Gesundheitslehre und Kulinarik im Mittelalter und der Früheren Neuzeit ausführlich dar und geben informative Zusammenfassungen aller 16 Beiträge.
Kay Peter Jankrift widmet seinen Artikel „Löwenfleisch, faule Birnen und Antoniuswein“ der Funktion von Diäten bei der Behandlung bestimmter Krankheiten. Der Beitrag dient gleichzeitig als Einführung in die Vier-Säfte-Lehre, einen der wichtigsten Bausteine der mittelalterlichen Heilkunde. Jankrift spricht von drei Funktionen der Ernährung im Bezug auf die menschliche Gesundheit: Erstens konnte das richtig ausgewählte Essen und Trinken zur Vorbeugung gewisser Krankheiten dienen, zweitens konnte der übermäßige Konsum eines Lebensmittels wegen seiner Eigenschaften im Sinne der Vier-Säfte-Theorie die Bedingungen für eine Erkrankung schaffen und drittens konnten bestimmte Ernährungsformen zu therapeutischen Zwecken eingesetzt werden.
Die nächsten drei Beiträge beschäftigen sich mit der medizinisch-diätetischen Sammelhandschrift der Bayerischen Staatsbibliothek Cgm 415. Melitta Weiss Adamson schlägt in einer detailierten Untersuchung der Wissens- und Textüberlieferung in ihrem Beitrag vor, dass der (Haupt-)Kompilator dieser wichtigen Handschrift ein an einer Universität ausgebildeter Arzt war und nennt sogar eine konkrete Person, die sie dahinter vermutet. Verena Friedl erörtert in ihrem Artikel das Konzept der „Dynamischen Edition“ und stellt ein Modell einer mehrstufigen Edition vor. Die Masterarbeit der Autorin[1], auf die im Text des Beitrages leider nicht verwiesen wird, zeigt, dass dieses Modell sehr effektiv sein kann. Es sei angemerkt, dass eine Entwicklung dieses Modells im digitalen Bereich möglich wäre, wobei auch weitere Editionsstufen, beispielsweise eine standardisierte Orthographie, für die Benutzung des Textes nützlich sein könnte.
Natascha Guggi analysiert in ihrem Beitrag „Italienische Rezepte in der anonymen Kochrezeptsammlung der Handschrift Cgm 415“ den Teil der Rezeptsammlung, dem ein italienischer Ursprung zugeschrieben werden kann. Eines der auffallendsten Ergebnisse ist die gezeigte regionale Adaptierung fremdländischer Speisen, ein wichtiges Merkmal bei der mehrschrittigen Überlieferung des kulinarischen Wissens.
Der nächste Teil besteht wiederum aus drei Beiträgen und ist dem „Ernährungsexperten als Kochbuchautor“ gewidmet. Karl-Heinz Steinmetz stellt in seinem Artikel „Yedoch will ich ekleren uff deine vordrungen – Pragmatisierung der Ernährungsdiätetik im Spiegel der Gesundheit des Lorenz Fries von Kolmar“ das Schreiben eines Arztes vom Anfang des 16. Jahrhunderts vor. Sein volkssprachiges Werk ist zu einem Bestseller geworden, der sogar ins Dänische übersetzt wurde. Den Kern der Ernährungsdiätetik von Lorenz Fries bildet die Humoraltheorie, von Steinmetz treffend als „kybernetische Gesundheitslehre“ bezeichnet. Hauptaugenmerk liegt bei Fries auf der Heilkunst, hinter der die Kochkunst zurücktritt. Thomas Gloning bespricht in „Die Platina-Übersetzung des Stephan Vigilius (1542). Kochkunst, Gesundheitslehre und sprachliche Form“ das Verhältnis zwischen dem lateinischen Original, cirka 1475 erschienen, und dessen deutscher Übersetzung. Er widmet sich sowohl dem Inhalt der Texte (hier finden wir wieder eine ausführliche Sektion über die Vier-Säfte-Lehre) als auch den Fragen der Übersetzungstechnik. Simon Edlmayr und Martina Rauchenzauner unternehmen in „Conrad Haggers Neues Saltzburgisches Koch=Buch von 1718/19 zwischen den Zeilen gelesen“ eine Analyse von Realien einer etwas späteren Zeitstellung und zeigen anhand des Zitrusfrüchtehandels die Bedeutsamkeit eines Kochbuches als Quelle der Kultur- und Alltagsgeschichte.
Die nächsten vier Artikel sind als „Corpusstudien“ ausgewiesen, wobei sie sich meines Erachtens inhaltlich nicht signifikant von den vorherigen unterscheiden, weil es auch hier wieder, wie bei der Thematik der Tagung zu erwarten ist, um die Erforschung des Zusammenhanges zwischen Heil- und Kochkunst anhand der Textanalyse geht. Johanna Maria van Winter stellt die Frage „Sind die Regimina duodecim mensium als „Mönchmedizin“ zu betrachten?“ und untersucht dabei die Gesundheitsregeln nach Monaten. Sie betrachtet detailliert die Tradierungslinien dieser Texte und nimmt an, dass sie ursprünglich von Klerikern zur körperlichen Reinigung bei der Vorbereitung zur Liturgie verwendet wurden und in der byzantinischen Reichskirche entstanden sind und sich über Ravenna in den Westen verbreitet haben. Marialuisa Caparrini bespricht eine deutsche Version des Werkes von Anthimus, einem Arzt des 6. Jahrhunderts, in ihrem mit „Kann der Arzt auch ein guter Koch sein? Die Kochrezepte in der deutschen Bearbeitung der Epistula Anthimi de observatione ciborum“ betitelten Beitrag. Auch darin ist ein enger Zusammenhang der Gesundheitslehre und Kulinarik augenfällig, wobei gezeigt wird, wie sich die alten Arztvorschriften in den Rezepten aus dem 6. Jahrhundert in ein praktisches Kochwissen des 15. Jahrhunderts umwandeln lassen. Karin Kranich untersucht das Speisenbüchlein in ihrem Beitrag „Das Tegernseer Wirtschaftsbuch: Benediktinische Kulinarik in Fasten- und Nichtfastenzeiten“. Sie betrachtet darin die Vorschriften für Speisen durch das Jahr und stellt fest, dass die Fastenzeiten keinesfalls Hungerzeiten waren, weil genau zu diesen Jahresabschnitten Luxusgüter in großen Mengen verbraucht wurden (eine Analogie, die ich mir wegen des grenzenüberschreitenden Charakters des Bandes erlaube, findet man im heutigen Russland: Zur Fastenzeit steigt dort, wenigstens in der Hauptstadt, der Verkauf der teuren Soyamilchkaffeevariationen und anderer veganer Luxusgüter). Simone Kempinger stellt das „Tiroler Kochbuch anno 1714“ vor und widmet sich besonders zwei Rezepten: dem Weintrauben-Zitronensaft und der Wacholderbeerensauce sowie deren medizinischen Bedeutungen.
Der nächste Beitragsblock ist den „Realienkundlichen Detailstudien“ gewidmet. Helmut W. Klug beschäftigt sich mit der Frage der Farben beim Kochen in seinem „… und färbs ain wenig ob du wilt. Eine analytische Bestandsaufnahme der diätetischen Aspekte des Färbens von Speisen in der spätmittelalterlichen Küche“. Er stellt die bisherigen Untersuchungen vor und analysiert die Verteilung der für mittelalterliche Speisen verwendeten Farben in Kochrezepttexten (insgesamt 2800 Rezepte), bei denen, wie sich herausstellt, gelb deutlich führt. Andrea Hofmeister-Winters Beitrag hätte auch in den Block der Corpusstudien gepasst. In ihrem Beitrag „und iz als ein latwergen. Quellenstudie zu Vorkommen, Zusammensetzung und diätetischen Wirkzuschreibungen von Latwerge in älteren deutschsprachigen Kochrezepttexten“ untersucht sie alle 57 bekannten Kochrezeptsammlungen, um in ihnen den genauen Sinn des Begriffs Latwerge festzustellen. Ihr Beitrag wird durch den Anhang 2 am Ende des Buches ergänzt, der ein Verzeichnis aller derzeit bekannten Überlieferungen der deutschsprachigen Kochrezepttexte zwischen 1350 und cirka 1500 bietet. Diese Darstellung zeigt, das unterstreicht Hofmeister-Widmer, wie wichtig die Bildung eines Korpus oder digitalen Textarchives der Kochbücher wäre, weil dadurch weitere Fragestellungen ermöglicht würden.
Eine ganz andere Perspektive wird im Artikel „Culina Historica. Möglichkeiten und Grenzen zur Rekonstruktion einer historischen Geschmackswelt“ von Andreas Klumpp vorgestellt. Unter der Berücksichtigung der Prinzipien der experimentellen Archäologie wurden Rezepte aus drei mittelalterlichen Kochbüchern nachgekocht. Aus dem Geleitwort von Trude Ehlert kann man schließen, dass es sich bei diesem Projekt nicht nur um theoretische Überlegungen, sondern auch um einen gelungenen Praxistest handelt. Einen anderen interdisziplinären Ansatz findet man im Beitrag von Inke Beckmann „Bilder nach Rezept? Kunstgeschichte und Kochbuchforschung“, die sich der Bedeutung (symbolisch als auch wirtschaftlich) einiger Lebensmittel in Gemälden der Niederlande des 17. Jahrhunderts widmet.
Im letzten Abschnitt „Philologische Grundlagensicherung“ findet sich eine editorische Ersterschließung. Trude Ehlert stellt „Kochrezepte und Notizen aus dem Günterstaler Notizenbuch. Edition von fol. 11r–14v der Handschrift GLA 65 Nr. 247 aus dem Generallandesarchiv Karlsruhe“ vor. Insgesamt werden zwölf Kochrezepte und 15 Notizen über den Verbrauch oder die Zuteilung von Speisen und Getränken aus einer Gebrauchshandschrift des 15./16. Jahrhunderts ediert, mit einer ausführlichen Beschreibung der Handschrift und deren Sprache, der Editionsprinzipien, einem Kommentar zu den Rezepten und Notizen selbst sowie einem Glossar.
Bei der Besprechung dieses Bandes über den Zusammenhang von Gesundheitslehre und Kulinarik im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, kommt man nicht umhin, zu schließen, dass er sowohl einen nützlichen Beitrag zum Wachsen unseres Wissensbestandes (body of knowledge) über die Überlieferung der medizinischen und kulinarischen Ideen liefert als auch eine erlesene und köstliche Speise für einen breiten Interessentenkreis bietet.
[1] Verena Friedl, Daz púch von den chósten.Dynamische Edition des deutschen Jamboninus von Cremona nach Cgm 415. Mit einem Glossar und Zutatenregister; Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (MA) an der Karl-Franzens-Universität Graz 2013. Online: http://unipub.uni-graz.at/download/pdf/226968.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg