Uneingelöste Versprechen

Ulrich Peltzers Roman „Das bessere Leben“ ist eine Horrorfahrt in die Abgründe unserer globalisierten Welt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lässt sich  Globalisierung erzählen? Indem man den Weg einer Schraube um die halbe Welt verfolgt, ehe sie bei Siemens gemeinsam mit drei anderen ihrer Art ein kleines Kühlschrankteil an seinem Bestimmungsort fixiert? Indem man die Ängste jener beschreibt, die ein sich internationalisierender Arbeitsmarkt plötzlich mit Konkurrenten konfrontiert, die bereit sind, schneller, billiger und länger zu arbeiten als man selbst? Oder indem man sich unter die Top Dogs begibt und einfach mitstenographiert, was die, die das Sagen haben in der vernetzten Weltwirtschaft, denken und planen?   

Ulrich Peltzer tut es zunächst, indem er in seinem neuen Roman „Das bessere Leben“ drei Haupt- und ein gutes Dutzend Nebenfiguren auf Schauplätzen agieren lässt, die über die ganze Welt verstreut sind. Das ist rasant arrangiert, scheint auf den ersten Blick etwas wirr strukturiert, enthüllt aber bei genauerem Lesen ein den Roman durchziehendes Netz von Motiven und Verweisen, die die einzelnen Teile dann doch wieder zu einem Ganzen werden lassen: moderne Literatur par excellence.

Als erzählte Gegenwart hat Peltzer ganz bewusst einen Zeitraum gewählt, der ein Jahr vor der großen Banken- und Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 liegt. Letztere freilich wirft ihre Schatten bereits voraus. Denn die Geschäfte, in denen der Roman seine Protagonisten rund um die Welt jagt, gehen nicht mehr so richtig gut. Der 14 Jahre erfolgreich als Verkaufsmanager für einen italienischen Konzern tätige Jochen Brockmann muss plötzlich um seinen Job fürchten. Sylvester Lee Fleming, weltweit unterwegs in dubiosen Versicherungsgeschäften, akquiriert Kunden immer häufiger mit kriminellen Mitteln, und Angelika Volkhart, aus der DDR stammend und inzwischen in verantwortungsvoller Position für eine Amsterdamer Reederei arbeitend, spürt eine innere Leere, der sie mit einer Liebesgeschichte zu begegnen versucht.

Leben auf dem absteigenden Ast, verflochten mit einem Bild der Welt, das demjenigen immer unähnlicher wird, das man sich einst – mit dem Idealismus der Jugend ausgerüstet – für die eigene Zukunft ausmalte. Jedem seiner Helden gibt Ulrich Peltzer eine Geschichte mit, die den Absturz aus dem Kosmos der großen Utopien in die tagtäglichen kleinen Kompromisse und Üblichkeiten symbolisiert: alles uneingelöste Versprechen. Und er konfrontiert Fleming, Brockmann und Co. mit anderen Daseinsentwürfen. Manche davon ähneln den ihren, etliche aber laufen auch auf andere Ziele hinaus.

Das ergibt unter dem Strich ein Figurenensemble, in dem die Übersicht zu behalten nicht immer leicht ist. Da ist Brockmanns Tochter, die in Mailand studiert, seine Exfrau Heidi Schettler, abgedriftet in die Welt der Esoterik, Schul- und Studienfreunde, Eltern und Geschwister, die alle ihre eigenen Geschichten mitbringen. Fleming hingegen wird schon bei seinem ersten Auftritt in einem Hotelzimmer in São Paulo von der Erinnerung an ein dreieinhalb Jahrzehnte zurückliegendes Ereignis gequält. Damals, im Mai 1970, wurden bei einem Einsatz der Nationalgarde auf dem Campus der Kent-State-Universität in Ohio vier gegen den Vietnamkrieg protestierende Studenten getötet. Offensichtlich war Fleming an jenem Tag dabei und hat bei dem Massaker nicht nur seine Freundin verloren, sondern auch jegliches Vertrauen in die Durchschaubarkeit der Verhältnisse und den freien Willen jedes Einzelnen. In der Folge wurde aus ihm genau jene diabolische Figur, die in einem riesigen Archiv Daten über Geschäftspartner sammelt, sich über verbriefte Rechte einfach hinwegsetzt und vor illegalen Machenschaften nicht zurückschreckt, wenn es um das eigene Ego und seine Bereicherung geht.

Über die DDR-Vergangenheit von Angelika Volkhart und die Biographie von deren einstiger Russischlehrerin schließlich gelangt man noch tiefer in die Geschichte eines Jahrhunderts zurück, in dem die großen Bewegungen – allesamt gedacht, die Menschheit aus ihrer jahrtausendelangen Unmündigkeit zu befreien – eine nach der anderen blutig scheiterten. Ein ganzes Kapitel lang zeigt der Roman, wie emigrierte deutsche Kommunisten sich 1936 in Moskau lieber gegenseitig belauern, hintergehen und zerfleischen als den Widerstand gegen das Hitlerregime zu organisieren. „Das bessere Leben“, wie es der Romantitel als eine Sehnsuchtsformel, die auf jede Zeit passt, aufruft, wird so bereits zu einem Zeitpunkt verraten, in dem dieses erst einzig und allein in den Köpfen von ein paar Idealisten existiert.

„Wovon träumt man? Was hält einen am Laufen?“, lässt Peltzer in einem Gespräch zwischen Jochen Brockmann und Angelika Volkhart, in deren Liebesgeschichte er eine Art privaten Ausweg aus den Wirren unserer Gegenwart hineingeschrieben hat, den Manager mehr sich selbst als die Partnerin fragen. Und bekommt zur Antwort: „Kann ich dir auch nicht beantworten, einfach so, müsste man aber, wenigstens für sich selber, um rauszukriegen, welche Träume überhaupt Sinn machen. Damit man nicht nach zwei Schritten schon vor die Wand läuft.“

Von den Beatles bis Thomas Pynchon, von Wolfgang Koeppen bis Quentin Tarantino, von Pierre Clastres‘ „Archäologie der Gewalt“ (1999) bis hin zu Dsiga Wertows „Drei Lieder über Lenin“ (1934) – „Das bessere Leben“ steckt voller Querverweise und Anspielungen. Wenn Brockmann mit seiner Tochter in Mailand eine Ausstellung der Konzeptkünstlerin Renée Green besucht, scheint es sogar so, als beschreibe Peltzer über deren Methode auch sein eigenes schriftstellerisches Herangehen an die Welt der Gegenwart im vorliegenden Roman:

Räume, in denen Geschichten zusammenliefen, die von Orten und Nicht-Orten erzählten, der Gegenwart und des Vergessens, Reisen ins Herz der Zeit, der Erinnerung, die immer in Bewegung sei, […], ihre Arbeiten, hatte jemand für eine Galerie geschrieben, entstünden über Jahre, in denen sie Ereignisse, ein Datum, Fundsachen in Variationen umkreise, ordne und neu ordne, auf was sie verweisen könnten, Zeichen und ein Spiegel […].

Peltzers neuer Roman ist der gewaltige Versuch, das, was heute „unsere Welt im Innersten zusammenhält“, literarisch zu erfassen. Peltzer hat keinen Wirtschafts- und Finanzkrisen-, sondern einen Zeitroman geschrieben. Ein Buch über eine Welt, die, wie es an einer Stelle heißt, „durchschaubarer und verwickelter zugleich, also eigentlich undurchschaubarer“ geworden ist.

Und dennoch erschöpft sich der Text nicht in modischem Pessimismus. Auch wenn er mit einem Anklang an den Stones-Titel „Sympathy for the Devil“ schließt. „Please allow me to introduce myself“ schleimt sich der Höllenfürst am Anfang an den Hörer heran. Den im Flugzeug nach Hongkong sitzenden Jochen Brockmann spricht sein Sitznachbar – bei dem es sich scheinbar um den diabolischen Sylvester Lee Fleming handelt – mit derselben Formel an: „‚Darf ich mich Ihnen vorstellen?‘, sagt plötzlich der Mann auf dem Nebensitz.“ Die Antwort lautet: „Warum nicht?“ Allein, sie kommt nicht von Brockmann, denn diesem letzten kurzen Satz des Romans fehlen die Anführungszeichen, die ihn als Figurenrede identifizieren würden. So muss man in diesen zwei Worten eher ein Fazit sehen, ein Sich-Fügen einer durch Figuren, die ihre früheren Überzeugungen von einer Perfektionierbarkeit der Welt eingebüßt haben, repräsentierten Gegenwart in den Gang der Dinge. Der wird ein Jahr später in die Krise führen. Und vielleicht auch in den nächsten Roman von Ulrich Peltzer.

Titelbild

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
446 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783100608055

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