Tanzen am Abgrund der Menschheit
Heinz Helle lässt in „Eigentlich müssten wir tanzen“ nicht nur die Zivilisation, sondern auch die Menschlichkeit einen qualvollen Tod sterben
Von Sandy Lunau
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEines sei dem potentiellen Leser von Helles Roman vorab ans Herz gelegt: Dieser Text hält wenig Erfreuliches und keineswegs Erbauliches bereit. Schon auf den ersten Seiten wird eine wehrlose und völlig apathische Frau Opfer einer Gruppenvergewaltigung, wenig später muss einer der Protagonisten dem sicheren Erfrierungstod ausgeliefert werden und ein zweiter durch einen gnädigen Hammerschlag von seinen Leiden erlöst werden. Dass diese Grausamkeiten in einer abgebrüht-sachlichen Sprache dargestellt werden, die nichts der Fantasie überlässt, trägt noch zusätzlich zu der Gänsehaut bei, die den Leser schon nach wenigen Seiten überkommt und nicht mehr vergehen will. „Eigentlich müssten wir tanzen“ stellt damit an Bedrückung selbst jene Werke der Gegenwartsliteratur in den Schatten, mit denen der Roman thematisch gesehen eine Traditionslinie bildet und die Nick Büscher unter dem Stichwort der ‚anthropofugalen Literatur‘ zusammenfasst. Diese zeichnet sich durch eine Grundstimmung der Isolation und Einsamkeit, eine oftmals misanthropische Weltsicht, die Darstellung der Menschennatur als negativ und die Imagination eines Untergangs oder Verschwindens der Zivilisation aus, oft vor dem Hintergrund einer krisenhaften Situation mit dem Kulminationspunkt einer ausbrechenden Katastrophe (vgl. Büscher, S 192.) Beispielsweise in David Monteagudos Roman „Fin“ bietet sich dem Leser wie bei Helle das Setting eines Wochenendtrips von Jugendfreunden, doch im Gegensatz zu dem deutschen Autor lässt der Spanier die Menschheit und nach und nach auch seine Protagonisten lediglich verschwinden, ein Szenario, das auch Thomas Glavinic in „Die Arbeit der Nacht“ für die schonungslose Analyse seines Protagonisten gewählt hat, der als einziger Überlebender ein entvölkertes Wien durchstreift. In Marlen Haushofers „Die Wand“ wird zwar der Tod der übrigen Menschheit direkt thematisiert; die Protagonistin bleibt aber durch die durchsichtige Wand, hinter der sie eingeschlossen ist, vom Anblick der toten Welt verschont.
Helle verzichtet auf diese Mittel der Distanzierung und wählt stattdessen eine brachiale Ästhetik des Untergangs, in der brennende Dörfer, Leichenberge und ausgebrannte Autowracks die Ausweglosigkeit der Protagonisten bildhaft auf die Spitze treiben. Und letztlich ist dies auch der Dreh- und Angelpunkt des Romans, der die Frage stellt, was vom Menschen übrig bleibt, wenn die Zivilisation den Bach runtergeht. Was trennt die Menschheit von den vermeintlich niederen Existenzformen, die lediglich mit ihrem körperlichen Weiterbestehen befasst sind?
Erstaunlich wenig, glaubt man Helle, denn wenige Tage genügen seinen Protagonisten, um das dünne Veneer der Menschlichkeit abzustreifen und dem eigenen Überleben und auch dem Ausleben der eigenen Triebe die oberste Priorität einzuräumen. Die vermeintliche Erhabenheit des Menschen zerfällt zwischen Schmutz, Kälte, Blut und Asche zu roher Gewalt, zu tierischem Überlebensinstinkt. „Das wiederholte Wieder-einmal, das uralte Auf-ein-Neues, das Öffnen der Augen, das Einsaugen der Luft, das partielle Feuern der allernötigsten und vorerst einzigen verfügbaren Hirnareale, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Spezies, die dazu verdammt ist, zu glauben, dass die Zugehörigkeit zu dieser Spezies etwas Besonderes aus ihr macht (…).“ Die exponierte Stellung des Menschen in der Gesamtheit der Schöpfung ist hier unmissverständlich zurückgenommen.
Diese Perspektive ist hart, bisweilen fast unerträglich und pessimistisch bis ins Mark. Und doch besticht sie durch ihre Ehrlichkeit und auch Offenheit gegenüber den Schwächen der menschlichen Natur. Hier gibt es keinen Heroismus, dem in der Realität ein Großteil von uns nicht entsprechen könnte, kein selbstloses Aufopfern für unsere Nächsten. Es geht um das sture Weiterexistieren um jeden Preis und die Einsicht, dass auch ohne den ringsum stattfindenden Untergang der Zivilisation die Frage nach dem Warum unbequeme Antworten hervorbringen kann. Heinz Helle ist mit „Eigentlich müssten wir tanzen“ ein eindringliches und intensives Werk gelungen, das trotz seines geringen Umfangs tief sitzt und umtreibt. Leider hat der Roman es nur auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft, was dem Umfang seiner Leserschaft hoffentlich keinen Abbruch tun wird.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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