Verdichtung und Wahrheit

Das „schwarze Heft“ von Edith Jacobson als Dokument der Psychoanalyse und des Widerstands

Von Bernd SchneidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Schneid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den „Gefängnisaufzeichnungen“ und dem darin enthaltenen „schwarzen Heft“ der renommierten Psychoanalytikerin Edith Jacobson (1897–1978) findet sich ein wichtiges Puzzlestück der deutsch-jüdischen und psychoanalytischen Geschichte, das nach fast 80 Jahren von der Sozialwissenschaftlerin Judith Kessler als Mitherausgeberin und Finderin der Aufzeichnungen dem Vergessen entrissen wird. Dieses zwar knappe, aber dicht ausgestattete Buch erscheint mit einem Geleitwort von Hermann Simon (dem ehemaligen Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum) und einem spannenden Essay von Kessler zur Auffindung des Dokuments. In die historisch-biografischen Zusammenhänge zu Jacobsons Leben und Wirken wird es vom Erziehungswissenschaftler Roland Kaufhold eingebettet, dessen Forschungsschwerpunkt – Emigrationsforschung in Verbindung mit Psychoanalyse – auch vieles an Unbekanntem zu Tage bringt. Der aus dem „schwarzen Heft“ aufbereitete Text und das anschließend komplett gedruckte Faksimile bieten die Möglichkeit, einen minutiösen Blick auf dieses psychoanalytische und jüdisch-deutsche Dokument einer engagierten jungen Frau zu werfen, welche die Emigration für ihre Patienten zu lange hinausgezögert und sich damit selbst in Lebensgefahr gebracht hat.

Edith Jacobson wurde 1897 in Schlesien geboren. Ihr Vater war Arzt und wurde im Ersten Weltkrieg schwer traumatisiert, was seine Tochter nachhaltig prägte. Sie selbst wurde Kinderärztin und begann 1925 ihre analytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut. 1930 wurde sie Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG). Ihr Lehranalytiker war Otto Fenichel, der mit seinen „Geheimen Rundbriefen“ (1934–1945) eines der heute zentralen Zeugnisse des Widerstands der Psychoanalyse im nationalsozialistischen Regime schuf. Jacobsons Rolle zwischen NS-Regime und Psychoanalytischer Gesellschaft sah nun folgendermaßen aus: Unter der Bezeichnung „Unvereinbarkeitsbeschluss“ wurde von der DPG den damaligen Ausbildungskandidaten die Abstinenzregel für die Behandlung von politischen Gegnern verboten. Jacobson allerdings, die sich der marxistischen Widerstandsgruppe „Neu Beginnen“ um Walter Löwenheim anschloss, hinterging diese analytische „Regel“ in ihrer eigenen Praxis. Sie behandelte trotz des Verbots Dissidenten und war politisch aktiv. Die genauen Umstände von Jacobsons Verhaftung durch die Gestapo können zwar nicht mehr eindeutig geklärt werden, hängen aber aller Wahrscheinlichkeit mit der Einhaltung ihrer Schweigepflicht gegenüber „verdächtigen“ Patienten und Regimegegnern zusammen und mit einer Anklageschrift, die sie mit einer Patientin in Verbindung brachte, die auf der Flucht entweder Selbstmord beging oder ermordet wurde. Die genauen Umstände hierzu lassen sich nicht mehr klären. Im Oktober 1935 kam Jacobson schließlich 11 Monate in Untersuchungshaft und dann über 2 Jahre ins Gefängnis, wo sie erst aufgrund schwerer Krankheit und durch die daraus folgende Verlegung in ein Krankenhaus über die Tschechoslowakei in die USA fliehen konnte. Dort wurde sie schließlich zu einer der wichtigen, doch in Deutschland lange Zeit vernachlässigten Schlüsselfiguren der Nachkriegspsychoanalyse.

Diese zeitgeschichtlichen Verstrickungen sind mit der biografischen Verbindung Kesslers zum Dokument, das sie aus dem Nachlass ihrer Mutter hat, und den von Kaufhold dargestellten komplexen Zusammenhängen von der über lange Zeit verdrängten Rolle der psychoanalytischen Gesellschaften während des Nationalsozialismus anschaulich und nachvollziehbar aufgearbeitet. Der zentrale Teil des „schwarzen Heftes“ bietet dann vor allem Jacobsons Gedichte und im Mittelteil die Selbstbeschreibung „Einige Betrachtungen über physische u. psychische Hafteinwirkung“, in der sie mit klarer Prosa vom „narzißtischen Trauma“ des Gefangenseins und Freiheitsentzugs spricht, das sie zwischen Widerständen, Ängsten, Qualen und Selbstverlust zu überstehen versucht: „Depersonalitätserscheinungen: Unwirklichkeitsgefühle; unmöglich, daß man das hier ist, traumartiges Empfinden!“

Am eindringlichsten sind allerdings Jacobsons Gedichte, die zwischen Naturbeobachtungen, Erinnerungen, Metaphern und Parabeln oszillieren und von ihr folgendermaßen betitelt sind: „Inhalt: Galgenlieder, heiter und traurig. pathetische und unpathetische Sonette. Nachdenkliche Verse. Abgeschriebene Verse.“ Diese sind zwar Laiendichtung, aber gerade deswegen ein Zeugnis für das überlebensnotwendige Vademecum der Poesie und Sprache in einer Umgebung wie dem Gefängnis, in dem sie – wie Jacobson selbst bemerkt – mit „Dichtwut“ gegen Suizidgedanken und Depressionen ankämpft. In Verbindung mit ihrer Biografie und ihrem Werk lassen sich in den „Gefängnisaufzeichnungen“ viele wertvolle Verdichtungen finden. Diese zunächst vielleicht vage erscheinenden Verbindungen – auch zu einer Mitinsassin – bieten den Grundstein für weitere Anknüpfungspunkte zur Geschichte der Psychoanalyse und Emigration, die hier ein Referenzwerk finden. Abschließend zeigt die im „schwarzen Heft“ als Loseblattsammlung aufgefundene Arbeitsskizze „Zur Technik der Analyse Paranoider“ ein frühes Kernstück ihrer späteren Publikationen zur Objektbeziehungstheorie und damit Jacobsons analytische Beobachtungsgabe und Feinfühligkeit.

In diesem Sinn ist das Buch jedem historisch Interessierten zur verwickelten Geschichte der Psychoanalyse und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus als wichtiges Dokument zu empfehlen, denn darin wird das Leben und Denken einer widerständigen jungen Frau in den 1930er-Jahren im nationalsozialistischen Deutschland spür- und nachvollziehbar.

Titelbild

Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen.
Herausgegeben von Judith Kessler und Roland Kaufhold. Mit einem Vorwort von Hermann Simon.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2015.
247 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783837925135

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