Babys mit Psychose

Ryû Murakamis Buch „Coin Locker Babys“ entfacht ein trashig-brutales Endzeitspektakel im Japan der Bubble-Phase

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ryû Murakami ist derjenige von den beiden berühmten Murakamis der zeitgenössischen japanischen Literatur, der die ostasiatische Insel ins Verderben stürzen lässt. Während der „gute Murakami“, Haruki Murakami, in Gestalt seiner menschenfreundlichen Helden Rettung für Japan in Aussicht stellt, sind Ryûs männliche Hauptfiguren meist in ihrer Kindheit psychisch geschädigte Charaktere – und diese ungeliebten „Mörderknaben“ steuern zielsicher dem Untergang entgegen.

Hinter der Fassade

Die „Coin Locker Babys“ wurden 1980 publiziert, in einer Dekade, in der Japan den legendären Wirtschaftsaufschwung erlebte, den man später nach seinem Einbruch als die Bubble-Ära bezeichnete. Die Zeitgeschichte weiß, dass auf die Bubble-Jahre eine dunklere Phase folgte, in der sich ökonomischer Niedergang und Prekarisierung einstellten. Doch schon im Luxusjahrzent hatte sich hinter den glänzenden Fassaden der Metropole eine gewisse Düsternis manifestiert, die das scheinbar wohlgeordnete Dasein der Menschen jener Tage als gefährdet und ihre Bestrebungen als Tanz auf dem Vulkan erscheinen ließ.

Ryû Murakami entwickelt in diesem frühen Text sein Konzept der ‚bösen‘ Waisenkinder, die unrettbar sind wie offenbar auch die Umwelt, die sie hervorbringt: Es ist die japanische Nachkriegsgesellschaft, die die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs verdrängt und sich nach 1945 ohne Vergangenheitsbewältigung ganz dem Wirtschaftlichen überantwortet, um schließlich in der „Bubble“ ökonomisch zu triumphieren, seelisch jedoch ins Prekäre abzugleiten – was schließlich eine Giftgas-Katastrophe in der Hauptstadt zur Folge hat: Erzählt 15 Jahre vor der Sarin-Attacke im Parlamentsviertel von Tôkyô und 30 Jahre vor der Kernschmelze in Fukushima im März 2011, mit der für einen Moment die Evakuierung der Metropole im Raum stand!

Mission Rache

Eine imaginierte Zone inmitten der City versinnbildlicht in den „Coin Locker Babys“ die schwarze Seite der bunten Bubble: Das „Giftghetto“ beherbergt die Ausgestoßenen und bietet dazu allerlei Möglichkeiten von Bedürfnisbefriedigung jenseits des Legalen. Wechselnde Schauplätze des Geschehens wie das Giftghetto, die Metropole mit ihren plutokratischen Symbolen, den Wolkenkratzern, die japanische Region, die Ruinen auf einer südjapanischen Insel vor Sasebo und die Jugendstrafanstalt im Norden sind in Murakamis Text nicht als reale Orte der Gegenwart ausgewiesen, mit denen Sozialkritik geübt werden soll, sondern als dystopische Kulissen konstruiert. Hier entfalten sich Szenen der Grausamkeit bis hin zum ultimativen Racheakt der Protagonisten an einem Japan, das sie mit jeder Faser ihres Körpers hassen.  Auf dem im Aktionthriller-Modus inszenierten Weg zur Hölle beabsichtigen sie nichts weniger, als die Vertreter des maroden Systems mitzureißen und seine Machtzentrale Tôkyô zu zerstören.

Hauptakteure dieser Ballade von zwei verstoßenen Söhnen sind Kikuyuki Sekiguchi und Hashio Mizouchi. Die Kinder wurden in Yokohama als Säuglinge in Schließfächern ausgesetzt und dann im Waisenhaus Unsere Liebe Frau von den Kirschblüten, einer christlichen Einrichtung in Südjapan, aufgenommen. Ihr unglückliches Schicksal verbindet Kiku und Hashi, die in einer Art von Symbiose existieren. Endlich werden sie adoptiert und leben bis zur Adoleszenz beim Ehepaar Kuwayama auf einer Insel vor der Westküste Kyûshûs. Sie gehen zur Schule, machen sich mit der Umgebung vertraut und spielen in einer Ruinenstadt, einer aufgegebenen Kohlebau-Siedlung. Die Beschaulichkeit ist trügerisch, denn in den Jungen tickt sozusagen eine Bombe. Man hatte sie während ihres Waisenhausaufhalts wegen Verhaltensauffälligkeiten in einer psychiatrischen Einrichtung mit einer, wie es heißt, neuen amerikanischen Methode der positiven Bewusstseinsbeeinflussung therapiert; diese Behandlung gegen psychotische Neigungen ─ das zeigt der Text bis zum Ende wiederholt auf ─ war jedoch nicht sehr erfolgreich.

Yellow Trash

Die Todesangst, in der sich die Schließfach-Babys nach der Geburt befunden haben müssen, hätte, so die Deutung eines Arztes, ihre Gehirne geprägt: Der „gewaltige Energieaufwand, durch den die beiden überlebt haben“, störe bei „gewissen Anlässen die neuronalen Verknüpfungen“. Eine ambivalente Haltung zur Menschheit, vor allem zum weiblichen Geschlecht, bleibt Hashi, dem Sänger, und dem sportbegabten Kiku zu eigen. Beide sind getrieben von der Sehnsucht nach Liebe, aber stets begleitet vom Destruktionstrieb. Zerrissenheit, Wut und Unberechenbarkeit der Protagonisten korrespondieren mit einer brutalistisch-barock und schaubildartig erzählten unerfreulichen Umwelt, einem absurd-tragischen menschlichen Zirkus der Hässlichkeiten in einer rücksichtslosen, mit Müll und Resten von Kampfstoffen aus dem Zweiten Weltkrieg konsequent die natürlichen Ressourcen verderbenden „giftigen“ Zivilisation: Bettler, Obdachlose, Kranke, unangenehme fette Frauen, stumpfe vertrocknete Männer, freudlose Vernunftehen, geldgierige Musikproduzenten, lächerliche christliche Prediger, die vor Sodom warnen, sture Gefängniswärter mit dem Bestreben, die Inhaftierten zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft umzuerziehen. Nur wenige Lichtblicke existieren – für Hashi ist es die fürsorgliche ältere Niva, für Kiku Anemone, ein reiches, exzentrisches Mädchen mit einem riesigen Krokodil als Haustier; übrigens könnte man auf den Gedanken kommen, Anemone sei entfernt Vorbild für Haruki Murakamis „Aomame“ gewesen, die in der Trilogie „1Q84“ dem Helden als Ariadne-Gestalt ebenfalls die Richtung aus einem endzeitlichen Labyrinth weist.

Der Autor verleiht der Verrohung und der Perversion des Habitats gebührend Ausdruck. Fressen oder gefressen werden heißt es in der Überlebensphilosophie, die Ryû Murakami für die Protagonisten ausgibt. Bezeichnend dafür ist die Eingangsszene, in der ein Frauenmund, der die große „verschlingende Mutter“ repräsentiert, den winzigen Penis eines Babys einsaugt. Im Giftghetto frönt man später ungehemmt der Lust, greift auf Kapseln mit chirurgischen Fäden oder andere absonderliche Drogen wie das einlullende Neutro zurück. Geschlechtlichkeit wird grotesk geschildert, so zum Beispiel der schlaffe, silikongefüllte Riesenpenis eines Ghettobewohners, der wiederum an die eindrucksvolle Szene in Akiyuki Nosakas Kurzprosa „Amerika-Algen“ denken lässt, in der ein japanischer Pornodarsteller vor amerikanischen Gästen mit Potenzproblemen versagt.

Gefühlt begegnen dem Leser im Text dutzende gequälte, getötete Tiere sowie etliche Kindermörderinnen, von denen eine ihr Baby in einen Abwassergraben an der Straße wirft. Das sorgfältig gehegte Krokodil Anemones findet einen sinnlosen, grausamen Tod auf der Autobahn, eine der schlimmsten Szenen des Romans, erweckt doch das Leid der Tiere hier deutlich mehr Mitgefühl als das der Menschen. In der Häufung der grellen Bilder und der Schrecknisse, die mit dem Fund der Giftzylinder im Meer und dem Ausbringen des tödlichen Nervengifts „Datura“ in Tôkyô endet, erkennt man die Trash-Attitüde Murakamis. Der Autor verdichtet seine Schilderungen von tristen Milieus im Hyperrealismus und eröffnet damit allegorische Ebenen. Zudem verarbeitet Ryû Murakami vermutlich Elemente aus Kultfilmen wie „Einer flog übers Kuckucknest“ (1975), „Mad Max“ (1979) und „Psycho“ (1960).

Murakamis Apokalypse-Message

Schwarzer Bildungsroman, Roadmovie, Erzählung eines dekadenten Niedergangs, Endzeitstory – als Vorlage für die „Coin Locker Babys“ haben wohl auch literarische Klassiker wie F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“ (1925) und „ A Clockwork Orange“ (1962; 1971 verfilmt) von Anthony Burgess gedient; für die Adaption des letzteren sprächen zum Beispiel die Ähnlichkeit der Konstellation Gewalt, Psychiatrie und Konditionierung sowie die frauenfeindliche Rhetorik des Werks insgesamt. Bis auf die Ariadne-Athene-hafte Gestalt der Anemone, die Kikus Gefährtin wird und die von der Rückkehr des Vorzivilisatorisch-Dschungelhaften schwärmt, haftet allen Frauen der Geschichte ein Makel an. Sie können den verseuchten Zonen und den abgewrackten Industrieanlagen, die Krieg und Gewinnsucht hinterlassen haben, kein positiveres, neues Leben gegenüberstellen.

Japans Gesellschaft stellt bei Murakami eine Art Zwangskollektiv dar, ein totalitäres System mit dem Machtzentrum Tôkyô, das Identität und Selbstwertgefühl des einzelnen untergräbt sowie die niedrigsten Instinkte hervorbringt. Demontiert wird der japanische Mythos von der umsorgenden Mutter, aber auch die patriarchalische Ordnung, in der die Unterwerfung des Individuums und sein Funktionieren gefordert werden. Dem Aufbegehren folgt hier die Resignation, die persönliche Entwicklung fällt der Gleichmachung zum Opfer. Da hilft nur die totale Vernichtung: Murakami lässt seine Protagonisten ihrer No-Future-Mission treu bleiben.

Dem Text ist übrigens die zeitgeschichtliche Distanz anzumerken: So sind die Olympischen Spiele von Tôkyô 1964 noch Thema. Die erzählte Zeit reicht bis ins Jahr 1988, was eine leicht futuristische Perspektive für die Leser Anfang der 1980er-Jahre bedingte. Murakami setzt sein Japanbashing in neueren Texten wie „Piercing“ (1994), „In der Misosuppe“ (1997) und „Der Parasit“ (2000) fort. Als seine Nachfolger sind Kôshun Takami mit „Battle Royale“ (1999), Akira Kuroda mit „Made in Japan“ (2000) und weiterhin Natsuo Kirino mit ihren verschiedenen Beiträgen zum Niedergang der Nation zu sehen. Das Vorbild Ryû Murakami hat in „Coin Locker Babys“ bei der Literarisierung eines hässlichen Japan jedenfalls Standards gesetzt.

Titelbild

Ryū Murakami: Coin Locker Babys.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
Septime Verlag, Wien 2015.
558 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783902711359

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