Zum Tod von Hellmuth Karasek
Erinnerungen und Dank an einen Freund – geschrieben aus Anlass seines 70. Geburtstags
Von Marcel Reich-Ranicki
Vorbemerkung der Redaktion: Am 29. September 2015 ist der Journalist, Literaturkritiker und Schriftsteller Hellmuth Karasek im Alter von 81 Jahren in Hamburg gestorben. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir eine Gratulation seines Freundes Marcel Reich-Ranicki zu Karaseks 70. Geburtstag im Januar 2004 – mit freundlicher Genehmigung von Andrew Ranicki. Die Gratulation ist zuerst am 4.1.2004 in der Berliner Zeitung „Der Tagesspiegel“ erschienen (erneut am 30.9.2015), deren Mitherausgeber Karasek damals war.
Ich habe ihn geschätzt, bevor ich ihn gekannt habe. Ich war ihm dankbar, wie man einem älteren Kollegen, von dem man einiges lernen konnte, dankbar zu sein pflegt. Wie kam ich darauf, dass es sich eben um einen älteren Kollegen handeln müsse, vielleicht einen aus der Generation Tucholskys und Polgars? Ach, es ist eine alte Geschichte, sie passierte vor über vierzig Jahren, aber erzählt habe ich sie noch nie. Also versuchen wir es jetzt.
Ich war damals bei der „Zeit“ und schrieb unter anderem eine wöchentliche Rubrik „Hüben und drüben“, in der ich das literarische Leben in der Bundesrepublik auf meine Weise, also nicht nur freundlich, kommentierte und kritisierte. Anfang 1962 fiel mir in der „Stuttgarter Zeitung“ eine Umfrage auf, die das Verhältnis zwischen Künstler und Publikum erörterte.
Die vielen und nicht kurzen Antworten, die wochenlang gedruckt wurden, stammten von bekannten Leuten, meist mit strammer, mit brauner Vergangenheit – wie der in jenen Jahren erfolgreiche und längst vergessene Romancier Gerd Gaiser und der einst anerkannte Germanist Hermann Pongs, den heute ebenfalls niemand mehr kennt. Es waren Antworten voll Verachtung für die neue, die zeitgenössische deutsche Literatur.
Nur einer tanzte temperamentvoll aus der Reihe. Er meinte: „Diejenigen, die nach dem Positiven rufen, setzen stillschweigend voraus, dass man das ,Gute‘ befördert, wenn man es in der Kunst proklamiert, und dass man das Chaos eindämmt, wenn man seine Möglichkeit verschweigt.“ Und: „Das Unbehagen an der modernen Kunst ist im Grunde nichts anderes als das Unbehagen an der Kunst überhaupt.“ Das war ein großes, ein nötiges Wort.
Dieser Mann, schrieb ich in der „Zeit“ vom 16. März 1962, habe als einziger in der Umfrage der „Stuttgarter Zeitung“ den Nagel auf den Kopf getroffen. Er gefiel mir außerordentlich, ich suchte von nun an seine Beiträge, wo immer sie sich finden ließen. Sie waren klar und entschieden, bar jeder Feierlichkeit, doch durchaus nicht frei von auffallender Vernunft und diskretem Humor.
Auf der nächsten Tagung der „Gruppe 47“ sah ich zu meiner Verblüffung, dass dieser Mann von der „Stuttgarter“ viel jünger war als ich: Er konnte keineswegs ein Generationsgenosse Tucholskys und Polgars sein, er war nicht ein Kritiker, ein Feuilletonist von gestern, sondern – und das freute mich außerordentlich – von heute und morgen.
Ohne Tucholskys und Polgars Generationsgenosse zu sein, gehört er mit Sicherheit zu deren Schülern, zu denen auch ich mich in aller Bescheidenheit zähle. Und damit mag es zusammenhängen, dass er, Hellmuth Karasek, mir von Anfang an sehr nahe stand: Schon nach seiner ersten, noch etwas unbeholfenen Äußerung auf dieser Tagung der „Gruppe 47“ wusste ich: Wir ziehen am selben Strang. Das gilt bis heute. In den nächsten Jahren trafen wir uns sehr häufig und sehr unregelmäßig. Wir nahmen an Diskussionen und Kongressen teil, und mal interviewte er mich und mal ich ihn. Dann wurden die Talkshows modern, wir trafen uns häufiger und telefonierten immer länger. Worüber? Das versteht sich von selbst, denn wir sprachen natürlich über Bücher und Premieren, über Opern und Konzerte, über Filme und Ballette, über Schriftsteller und Theaterleute und, nicht zu vergessen, über deren Frauen und Freundinnen.
Aber da gab es große Themen, über die wir – das ist vielleicht doch wichtiger und interessanter – nie auch nur ein einziges Wort verloren haben, Themen, die für uns einfach nicht existierten: Nie haben wir darüber geredet, was Literatur bewirken sollte, was denn die Aufgabe des Theaters sei, wozu Opern aufgeführt und Filme gedreht werden.
Kurz und gut: Über alles Fundamentale gab es in unseren unzähligen Gesprächen keine einzige Silbe. Denn beide wussten und wissen wir nach wie vor, und beide werden wir uns in dieser Hinsicht von niemandem und um keinen Preis beirren lassen: Mögen andere herrliche Ideen predigen, mögen sie von Trost, Zuspruch und Erbauung und allerlei hehren und schönen Sachen sprechen. Wir aber, Hellmuth Karasek und ich, meinten damals und meinen immer noch, dass Literatur und Musik, Film und Theater, ja die Kunst überhaupt, dass dies alles einen einzigen Zweck habe und eine einzige Aufgabe erfüllen sollte, nämlich, schlicht und ganz einfach ausgedrückt, den Menschen Unterhaltung und Vergnügen zu bieten, ihnen Spaß und Freude zu bereiten, ihnen vielleicht sogar, ein großes Wort, zu etwas Glück zu verhelfen.
Ist das nun wirklich alles? Ja, und es genügt, darum geht es, das andere ist nebensächlich. Nicht mehr und nicht weniger wollten Shakespeare und Mozart, die beide doch wohl nicht zu den unbegabtesten und kümmerlichsten Repräsentanten unserer Unterhaltungsbranche gehören. Und weil es über derartige Fragen nie ein Gespräch zwischen Karasek und mir gab – denn es hat keinen Sinn, das Selbstverständlichste noch einmal zu sagen –, war unsere berufliche Zusammenarbeit stets so erfreulich wie makellos.
Es war, glaube ich, Mitte der Sechzigerjahre, da hatte ich Lust, ab und zu in der „Zeit“ eine Theaterkritik zu schreiben. Karasek war mittlerweile eben dort gelandet und in der Redaktion der „Zeit“ für Theater zuständig. Von ihm hing es ab, welche Premiere ich besprechen durfte.
Ich war nicht gerade bescheiden: Die Uraufführungen der besten deutschen Stückeschreiber wollte ich rezensieren und Neuinszenierungen der bedeutendsten Regisseure, jene vor allem, die Shakespeare und Tschechow neu interpretierten.
Offen gesagt: Manch einer meiner Wünsche kam dem Redakteur Karasek gar nicht gelegen, weil er die Premiere selber besprechen wollte. Aber er hat tatsächlich jeden meiner Wünsche erfüllt. Mit anderen Worten: Er ist, wann immer es nötig war, zu meinen Gunsten zurückgetreten, ohne je davon Aufheben zu machen. Das ist in unserer Branche nicht immer üblich. Deshalb habe ich es bis heute nicht vergessen.
Als mir im Sommer 1987 das Zweite Deutsche Fernsehen eine regelmäßige Literatursendung vorschlug, habe ich akzeptiert, doch eine meiner Bedingungen lautete: Ein ständiger Teilnehmer an dieser Diskussionssendung müsste Hellmuth Karasek sein. Und wieder erwies sich unsere Zusammenarbeit als sehr gut.
Natürlich waren wir, Karasek und ich, bei diesem oder jenem Buch unterschiedlicher Ansicht (übrigens passierte das gar nicht so häufig), doch immer waren wir uns einig, dass unser „Quartett“, ein öffentlicher Streit um Neuerscheinungen, ernst und doch heiter, auf unaufdringliche Weise belehrend und nützlich und gleichwohl unbedingt amüsant sein sollte. Schließlich das Allerwichtigste: Dieses „Quartett“ konnte und wollte auf jeden Fall nichts anderes sein (und das haben nicht alle seine Teilnehmer verstanden) als ein Spiel – wie die ganze Literatur. Ja, die Literatur ein Spiel – diese Überzeugung hat Karasek und mich nun schon ein Leben lang zusammengehalten.
Jetzt wird er also siebzig Jahre alt. Da sei es doch höchste Zeit, könnten manche meinen, endlich ganz erwachsen zu werden, also sich des Kindlichen energisch zu entledigen und auf das Spiel zu verzichten. Aber ich denke nicht daran, derartiges von Karasek zu erwarten. Im Gegenteil: Er soll, er muss bleiben, wie und was er ist. Denn etwas Kindliches, verborgen oder nicht, gehört zum Wesen eines jeden Künstlers, mehr noch: zum Wesen auch jener, die, ob selber Künstler oder nicht, das Musische und das Artistische so ernst nehmen, dass sie sich ihre Existenz ohne Kunst, ohne Literatur nicht mehr vorstellen können.
Ja, Karasek wird, dessen bin ich sicher, zu unser aller Glück nie ganz erwachsen werden, er wird das Jugendliche mit der Beimischung des Kindlichen keineswegs überwinden, er wird ihm trotzig, wie er bisweilen sein kann, die Treue halten. Und das Spiel, das Spielerische? In seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung“ sagt Schiller, der Mensch spiele nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch sei, und er fügt hinzu (darauf kommt es eben an), der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“.
In diesem Sinne können wir uns auf Karasek verlassen: Er wird weiterhin mit kindlicher Neugierde, mit jugendlichem Staunen über Theater und Literatur, über den Film und natürlich auch, wenn man es von ihm nur häufig genug wünschen wird, über das Kabarett und den Zirkus schreiben. Und wir, seine Leser, werden gleichfalls staunen: über seine grandiose Lust an der Bewunderung, über seine unvergleichliche, seine nicht nachlassende Begeisterungsfähigkeit. Aber auch seine kritische Wachsamkeit ist heute noch so stark wie eh und je: Er wird weiterhin, wie so oft in unserem „Quartett“, den Pfuschern nichts durchgehen lassen und den Nichtskönnern auf die Finger schauen.
Übrigens, dass ich es nicht vergesse: Ich habe ihm sehr viel zu verdanken, ich habe viel von ihm gelernt. Ich übertreibe nicht: Mein Leben in dieser Bundesrepublik Deutschland wäre ohne ihn, ohne den Freund Karasek, ungleich öder und trauriger. Sei umarmt, Hellmuth.