Der „Westen“ vor den Herausforderungen der Gegenwart

Heinrich August Winkler legt den letzten Band seines Opus magnum vor

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner Darstellung der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts als „langer Weg nach Westen“ zählt Heinrich August Winkler, von 1991 bis 2007 Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, zu den wirkmächtigsten deutschsprachigen Historikern – auch, wenn die von ihm damit vertretene so genannte Sonderwegthese für viele mittlerweile an Überzeugungskraft eingebüßt hat. Der „Westen“ als „normatives Projekt“ bleibt dennoch sein Lebensthema. Seit 2009 hat er ihm eine monumentale vierteilige Darstellung gewidmet, in der auf weit über 4.500 Seiten die Geschichte dieses Projekts von der Antike bis in die Gegenwart verfolgt wird. Die Reihe hat sich als großer verlegerischer Erfolg erwiesen: Der erste Band „Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“ liegt bereits in vierter Auflage vor, beim zweiten zum Zeitalter der Weltkriege (zuerst 2011) ist die zweite Auflage unlängst erscheinen, und auch beim Abschlussband war bereits ein Nachdruck erforderlich – von den Sonderausgaben ganz zu schweigen.

Gerade das letzte Buch mit dem Untertitel „Die Zeit der Gegenwart“ steht für einen Trend, wonach die Analyse und Deutung der jüngsten Vergangenheit eben nicht mehr ‚nur‘ Journalisten, Politologen und Soziologen überlassen wird, sondern sich mehr und mehr auch (Zeit-)Historiker auf diesem Feld engagieren. Genannt seien hier nur die „Geschichte Europas in unserer Zeit“ mit dem Titel „Der Preis der Freiheit“ (2012) des Direktors des Instituts für Zeitgeschichte Andreas Wirsching, „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ (2014) des Wiener Historikers Philipp Ther – eine „Geschichte des neoliberalen Europa“ – und zuletzt die „kurze Geschichte der Gegenwart“ des Mainzer Historikers Andreas Rödder unter der Überschrift „21.0“ (2015). Dieses Engagement, das vielfach auch mit Wortmeldungen im Feuilleton einhergeht, korrespondiert mit einen Interesse der Politik an solchen Untersuchungen – nicht von ungefähr war es Winkler, der am 8. Mai 2015 vor dem Deutschen Bundestag die Rede zum 70-jährigen Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs hielt.

Die Rede schlug einen weiten historischen Bogen bis hin zum Epochenumbruch von 1989/90 und zum Ukraine-Konflikt – letzterer ein Thema, das sich am Schluss von „Die Zeit der Gegenwart“ findet. Drei Großkapitel bestimmen bis dahin den Gang der Darstellung mit den Knotenpunkten der Anschläge vom 11. September 2001 und der Insolvenz von Lehman Brothers als Ausdruck der großen Finanz- und Wirtschaftskrise vom Ende der 2000er-Jahre: „Vom Triumph zur Tragödie: 1991–2001“, „Vom ,Krieg gegen den Terror‘ zur Weltfinanzkrise: 2001–2008“ und „Das Ende aller Sicherheit: 2008–2014“. Schon diese Überschriften machen deutlich, dass Winkler hier keine „Erfolgsgeschichte“ schreibt, sondern vielmehr die Herausforderungen für das „westliche Projekt“ schildert – jenen „Werten und Maßstäben, die sich in einem Teil Europas, dem ,lateinischen‘, von der Westkirche geprägten Teil des alten Kontinents, unter historisch einzigartigen Bedingungen über Jahrhunderte hinweg entwickelt und in den amerikanischen und französischen Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts ihren klassischen Ausdruck gefunden haben“, und die sich im Kern im „universellen Charakter der unveräußerlichen Menschenrechte“ manifestieren.

Orientiert an diesen Leitlinien und chronologisch direkt anschließend an den Vorgänger zum Zeitalter des „Kalten Kriegs“ verarbeitet Winkler in seinem Buch eine beeindruckende Fülle von Literatur aus der deutsch- und englischsprachigen Forschung. Geographisch liegt der Schwerpunkt der Darstellungen auf den (großen) Ländern der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, stets gespiegelt an den Antagonisten des „Westens“ – Russland vor allem, dazu China und die Staaten des Nahen Ostens. Strukturell changiert der Band zwischen Chronik und Analyse der jeweiligen innen- und außenpolitischen sowie wirtschaftlichen Entwicklungen, ergänzt durch ihre Einordnung mit Blick auf die eingangs wie in den anderen Bänden nur kurz aufgegriffenen normativen Ansprüche. Inhaltlich versteht er sich so vor allem als Plädoyer an die westlichen Staaten und Gesellschaften, die eigenen ideellen Grundlagen ernst zu nehmen, weswegen Winkler häufig eben auch Geschichten des  Scheiterns gegenüber diesen Ansprüchen erzählt. Seine Kritik gilt so etwa der Politik George W. Bushs und der sogenannten Neokonservativen in den USA oder den deutschen „Putinophilen“.

Gegenüber den chronologisch angelegten Passagen stehen solche Ausführungen jedoch weit im Hintergrund. An diesem Befund werden die konzeptionellen Schwierigkeiten von „Die Zeit der Gegenwart“ sowie der „Geschichte des Westens“ insgesamt deutlich.  Über weite Teile bietet auch dieser Band eine „konventionelle Nacherzählung der politischen Geschichte eines um Nordamerika erweiterten Europas“ (Klaus-Jürgen Bremm zum ersten Band des Reihenwerks) – angesichts der Fülle des verarbeiteten Stoffes und der damit verbundenen darstellerischen Schwierigkeiten ist dies immerhin schon eine beeindruckende Leistung an sich. Die Spannungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Projekt und Umsetzung werden aber nur am Rand beleuchtet. Die mannigfaltigen Herausforderungen der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte können vom Autor so lediglich dargestellt, nicht aber erklärt werden. Natürlich hat auch und gerade eine rein erzählende Geschichtsschreibung ihren ganz eigenen Wert – Intention und Anspruch Winklers dürften aber dennoch anders gelagert sein. Hier rächt es sich zudem, dass die „normativen Grundlagen“, auf denen das gesamte Werk aufbaut, von ihm seltsam dünn und ohne größeren Tiefgang behandelt werden. Die immanente Grundlage für Rückbezüge fehlt so dem Text. Auch das abschließende Kapitel „Vom normativen Projekt zum normativen Prozess“ bietet auf etwas mehr als 30 Seiten kaum mehr als eine knappe Zusammenfassung der vier Bände des Gesamtwerks.

Damit verbunden ist ein zweites Problemfeld, das auch diese dürftige Behandlung eines eigentlich zentralen Themenkomplexes erklären mag. Das „normative Projekt der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 in Gestalt der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie“ beziehungsweise dessen Verwirklichung ist für Winkler der unhinterfragte Zielpunkt historischer Entwicklung, für Ambivalenzen bleibt kein Platz. Das Westernisierungs-Paradigma seines einflussreichen ersten Hauptwerks „Der lange Weg nach Westen“ wird hier von der deutschen auf eine globale Ebene gehoben. Als gesellschaftspolitische Zielsetzung mag eine solche Verabsolutierung ihre Berechtigung haben. Die teleologischen Tendenzen der damit verbundenen Art von Geschichtsschreibung bedingen jedoch analytische Engführungen und scheinen nur mehr begrenzt geeignet, die Welt von heute zu deuten. Hier bedürfte es eines multiperspektivischen Ansatzes, der den Unübersichtlichkeiten der Gegenwart eher entspräche.

Titelbild

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
687 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406669866

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