Im Kampfanzug des Revolutionärs

Von den Wandervögeln bis zur Netzbewegung: Christian Füller über Kindesmissbrauch als blinder Fleck deutscher Protest- und Reformbewegungen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mangelnde Aktualität kann man Christian Füllers Buch über sexuellen Missbrauch in deutschen Reform- und Protestbewegungen schon einmal nicht vorwerfen: Erst kündigte die von Missbrauchsskandalen gebeutelte Odenwaldschule im April 2015 über 100 Jahre nach ihrer Gründung das endgültige Aus ihres Schulbetriebs an, dann traten im Mai die Berliner Grünen mit einem 90-seitigen Bericht vor die Öffentlichkeit: Bis Mitte der 1990er-Jahre sei ihre Partei von einem Pädophilen-Netzwerk unterwandert gewesen, räumten sie darin ein.

Und wenn die Grünen bislang nicht gerade empathisch mit möglichen Opfern umgingen (noch 2013 hielt eine Grünen-Sprecherin die Idee einer Anlaufstelle für Betroffene für „wahnsinnig lächerlich“, erinnert Füller in seinem Buch), so sprach die Berliner Landesvorsitzende der Grünen, Bettina Jarasch, nun von einem „schrecklichen Versagen“ und von „falsch verstandener Toleranz“. Man kann sich das Gefühl der Genugtuung bei Christian Füller gut vorstellen: Als er 2013, mitten im Wahlkampf, unbedingt auf die pädophile Vergangenheit der Grünen aufmerksam machten wollte, wurde das zum Auslöser dafür, dass er am Ende seinen Job als „taz“-Bildungsredakteur verlor.

Warum Kindesmissbrauch seit jeher so etwas wie der blinde Fleck deutscher Reformbewegungen ist, erhellt Christian Füller nun eindrucksvoll und materialreich in seinem Buch „Die Revolution missbraucht ihre Kinder“. Der Bogen ist dabei weit gespannt und reicht von den seit 1896 durch deutsche Wälder ziehenden „Wandervögeln“ über Reformpädagogik und Kinderladenbewegung der 68er bis zu den Netzaktivisten unserer Tage, die jede Kontrolle im Netz als „Zensur“ ablehnen, weshalb Minderjährige in Chatrooms und sozialen Netzwerken Pädo-Sexuellen regelrecht ausgeliefert seien, wie Experten beklagen.

Füllers Studie zeigt, wie sexueller Missbrauch im Rahmen von Emanzipationsbewegungen mit dem Missbrauch von Ideen („pädagogischer Eros“, „sexuelle Revolution“, „Freiheit des Internets“) einhergeht: „Der pädophile Täter zieht sich den Kampfanzug des Revolutionärs an und schwimmt in der Bewegung mit.“ Beispiele für solch getarnte Pädophile sind der Reformpädagoge und Wortführer der Jugendbewegung Gustav Wyneken, der langjährige Schulleiter der Odenwaldschule Gerold Becker oder der grüne Kinderrechtler Werner Vogel, der 1983 beinahe Alterspräsident des Deutschen Bundestags geworden wäre.

Besonders die Idee vom „pädagogischen Eros“, der liebevollen, sich auf Platons „Symposion“ berufenden Zuwendung zum Kind, diente Pädosexuellen als willkommene Fassade, konstatiert Füller. Hartmut von Hentig, der Doyen der Reformpädagogik, erklärte etwa 2010, die Gesellschaft sei zu kleinmütig, was diesen besonderen Eros angehe, und blicke zu „misstrauisch auf jede Zärtlichkeit“ zwischen Lehrer und Schüler. Nur Wochen später wurden die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule bekannt, bei denen just Hentigs Lebensgefährte Gerold Becker im Zentrum stand.

Die Kombination von Idee und Bewegung bot und bietet Pädophilen aber auch die Möglichkeit, sich zu vernetzen und gesellschaftskompatible Visionen zu formulieren. Nach 1900 feierte etwa Hans Blüher, der Propagandist der Wandervogel-Bewegung, in seinen von Thomas Mann, Rainer Maria Rilke oder Sigmund Freud gelesenen Schriften „die tolle sexuelle Leidenschaft, die solche 12-15jährige hervorbringen können“, und den Eros „mann-männlicher Gemeinschaften“ zwischen alten und jungen Wandervögeln als angeblich unkörperliche, quasi-mystische Erlebnisse.

Für Füller ist das eine für Kindesmissbrauch typische Schönrednerei, ging es Blüher doch letztlich genauso um Penetration wie schon den Päderasten im antiken Griechenland, auf die Blüher sich berief und die sich einbildeten, sie würden ihren männlichen Heranwachsenden qua Anal- oder Schenkelverkehr Seele „einhauchen“.

Jahrzehnte nach Blüher, in den 1980er-Jahren, forderte bei den Grünen die „Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle“ die Abschaffung gleich des kompletten Sexualstrafrechts, was „die Auslieferung von Kindern und Jugendlichen bedeutet (hätte) – unter der Maßgabe ihrer sexuellen Befreiung“, wie Füller konstatiert. Immerhin elf Landes- und Kommunalprogramme der Grünen übernahmen diese Forderungen: „Niemals war eine pädophile Lobby näher am Gesetzgeber als bei den Grünen“ – die ihre pädophile Vergangenheit später lieber verdrängten, statt sie aufzuarbeiten.

Füllers journalistische Schreibe ist von der Lust an der Zuspitzung und Provokation getrieben. Das ist gut für die Lektüre, aber nicht immer für die Sache. Handelt es sich etwa beim „pädagogischen Eros“ wirklich nur um eine „Tarnideologie“? Immerhin haben sich unzählige Lehrer auf ihn berufen, ohne ihre Schutzbefohlenen deshalb zu missbrauchen. Und handelt es sich bei der heuchlerischen Berufung auf diesen Eros wirklich um ein spezifisch deutsches Problem, weil sich die Deutschen als „legitime Nachfolger der griechischen Hochkultur“ ansahen und die „Akzeptanz für Missbrauch (tief) in die Mentalität der Deutschen eingeschrieben ist“?

Zu den Verdiensten von Füllers Studie gehört es indes, auf Bedingungen und Strukturen hinzuweisen, die Missbrauch in Bewegungen möglich machen, wie das Vorhandensein von gesellschaftlichen Nischen (Zelt, Chatroom) oder qua Ideologie zum Verschwimmen gebrachte Hierarchien zwischen Kindern und Erwachsenen (Wandervögel, Kinderladen). Lobenswert ist auch Füllers Bemühen um historische Gerechtigkeit: Sowohl Jugendbewegung als auch die „sexuelle Revolution“ der 68er werden als jeweils historisch überfällige Phänomene in repressiven Zeiten eingeordnet – nur dass sie eben immer auch Tätern „Tür und Tor“ öffneten.

Der Missbrauch in der Kirche bleibt in Füllers Studie zwar unberücksichtigt, wird aber zumindest vergleichend herangezogen – mit einem bemerkenswerten Ergebnis: Mögen Missbrauchsfälle in der Kirche rein quantitativ überwiegen, so habe sie doch nie eine „gemeinsame Missbrauchsideologie“ produziert. Protestbewegungen, die anders als Priester etwa in Heimen, nicht über Zwangsinstrumente verfügten, mussten „mehr verführen“, wie in der Odenwaldschule mit dem schönen Schein der Reformpädagogik. Füllers Fazit: Sei in der Kirche daher mehr realer Kinderschutz notwendig, so in Reformbewegungen mehr „intellektuelle Dekontamination“. 

Titelbild

Christian Füller: Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
280 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446247260

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