Weiterleben in einer fremd gewordenen Welt

‚Implizite‘ und ‚explizite‘ Migrationen in der Literatur nach der ‚Wende‘

Von Frank Thomas GrubRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Thomas Grub

1990 schrieb Helga Königsdorf (1938-2014) im Vorwort zu ihrem Band Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds: „Ohne den Ort zu verändern, gehen wir in die Fremde. Heimat aufgeben kann eine lebenswichtige Operation sein. Doch immer, wenn das Wetter umschlägt, werden wir einander ansehen, lange noch, und diesen Schmerz empfinden, diese Vertrautheit, die keiner sonst versteht.“[1] Schon dieses kurze Zitat verweist auf zentrale Aspekte dessen, worum es im Rahmen dieses Essays gehen soll. Dass Königsdorf eine Situation beschreibt, die als ‚immobile‘ und somit implizite Migration bezeichnet werden kann, ist bei genauerer Kenntnis über den Verlauf der deutschen ‚Einheit‘ nicht weiter erstaunlich; sie beschreibt einen Prozess, von dessen aktiver Partizipation viele sich ausgeschlossen fühl(t)en.

Bewegungen der ‚Migration‘ – so unterschiedlich sie sein mögen – erfolgen in der Regel explizit. Als ‚implizite Migration‘ sei im Gegensatz dazu der Übergang in eine andere Gesellschaftsform bezeichnet, der ohne einen räumlichen Ortswechsel erfolgt, also ‚immobil‘ stattfindet. Häufig erscheint dieses Phänomen in Verbindung mit Darstellungen einer ‚Fremde‘, welche der ‚Heimat‘ und der ‚Vertrautheit‘ gegenübergestellt wird. Kategorien dieser Art und ihre Ausformung in literarischen Verarbeitungen von ‚Wende‘ und deutscher ‚Einheit‘ werden im Folgenden genauer betrachtet. Im Zentrum stehen dabei drei Romane aus den ersten Jahren nach der ‚Wende‘: Im Schatten des Regenbogens (1993) von Helga Königsdorf, Unter dem Namen Norma (1994) von Brigitte Burmeister und Der Zimmerspringbrunnen (1995) von Jens Sparschuh.

Ab dem Frühjahr 1990 – ein Schlüsseldatum dürfte dabei die Volkskammerwahl vom 18. März darstellen – treten die ‚impliziten Migrationen‘ verstärkt in Essays, Reden, Briefen, Gesprächen und Kommentaren auf, erscheinen aber auch in im engeren Sinne literarischen Texten. Die erwähnten Protokolle, die Königsdorf 1990 veröffentlichte, kreisen denn auch vor allem um den sich stark verändernden Alltag in der DDR, Blicke zurück und eine sich im Nachhinein konstituierende DDR-Identität. Eine der dominierenden Konstanten ist die Angst vor Arbeitslosigkeit. Die Texte zeugen von einer tiefen Verunsicherung, einhergehend mit einem von den jeweiligen Gesprächspartnerinnen und -partnern unterschiedlich bewerteten Utopieverlust. Eine Generation nimmt Abschied:

Das ist nun alles Geschichte. Alles vorbei. Jetzt müssen wir erst mal zwanzig Jahre auf Kapitalismus machen. Vielleicht bricht die Umweltkatastrophe und alles so über uns herein, daß die großen Banken erkennen, der Profit ist auch nicht mehr das Nonplusultra. Und dann gibt es vielleicht ein paar Linkskräfte mehr. Aber da sind wir schon nicht mehr da,[2]

erklärt eine von Königsdorfs Gesprächspartnerinnen. Die Einstellung der Bundesrepublik gegenüber ist vielfach durchaus positiv, auf jeden Fall überwiegend offen. Königsdorf nimmt jedoch weniger die Versuche der ‚Ankunft‘ im westdeutschen Gesellschaftsmodell in den Fokus als die Situation des Abschieds von der DDR, wie der zuerst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 26.02.1990 erschienene Essay Das Spektakel ist zu Ende belegt:

Das Spektakel ist zu Ende. Der Held liegt im Sterben. Am Himmel kreisen die schwarzen Vögel.
Sie fallen ein in „unser Land“, mit teilnehmender Miene und Fotoapparaten, unsere letzten Zuckungen unter die Leute zu bringen. Oder sie bleiben bequem im Medienkanapee und haben eh schon alles gewußt.[3]

Mit dem Hinweis auf „unser Land“ spielt Königsdorf nicht nur auf den berühmten Aufruf vom November 1989 an; sie etabliert, ebenfalls im Februar 1990, im „Neuen Deutschland“ einen Heimatbegriff, den sie in anderem Zusammenhang an die SED koppelt: „Diese Partei ist uns Heimat gewesen.“[4] Doch im Juli 1990 stellt Königsdorf in der „Zeit“ fest: „Heimat, das habe ich im Herbst begriffen, ist der Ort, wo man sich einmischen darf. Nun darf ich mich plötzlich in ganz Deutschland einmischen.“[5] Der Heimatbegriff ist also selbst in einem vergleichsweise überschaubaren Zeitrahmen höchst inkonsistent und in einer ständigen Veränderung begriffen.

1993 erschien Königsdorfs durchaus umstrittener Roman Im Schatten des Regenbogens. Ohne dass hier ausführlicher auf den Inhalt eingegangen werden soll, ist es für die hier interessierenden Zusammenhänge wichtig zu wissen, dass im Zentrum des Textes eine Wohngemeinschaft steht, die zugleich als Zweckgemeinschaft fungiert. Zentrale Figuren sind: Ruth Makuleit, die Hauptmieterin der Wohnung und frühere Mitarbeiterin am „Zahlographischen Institut“, „der Alte“, früherer Direktor jenes Instituts, „die Alice“, die „alte Frau Franz“ und wechselnde Mieter eines Durchgangszimmers. Jene „wurden von einer Agentur vermittelt. Es waren Leute, die eine schnelle Lösung brauchten und die auch ein Provisorium akzeptierten.“[6] Das Durchgangszimmer mit seinem wechselnden Personal stellt eine Ausnahme dar, ansonsten ist Migration hier vor allem als Rückzug zu deuten: „Aber die Hitze war nicht der eigentliche Grund dafür, daß die Bewohner der Eckwohnung im siebenten Stock keine Ruhe fanden. Sie waren Gestrandete, die eine Gemeinschaft verband, von der sie wußten, daß sie nicht von Dauer sein würde.“[7]

Die Straße trägt zwar noch den alten Namen, doch „[d]ie erklärenden Schilder waren lange verschwunden“.[8] Insofern befinden sich die Figuren in einer nicht mehr klar zu verortenden Situation des Dazwischen, der Transition. Zusammenfassen lässt sich ihre Lage mit den Sätzen: „[…] es konnte geschehen, daß sie stundenlang herumsaßen und einander auf die Nerven gingen. Aber das Alleinsein war noch unerträglicher.“[9] Bald schon tritt die Geschichte der Abwicklung des Zahlographischen Instituts in den Vordergrund des Textes. In diesem Zusammenhang erfolgt die ‚Verdoppelung‘ der Figur des ‚Alten‘ in einen ‚Ost-‘ und einen ‚Westalten‘: Der ‚Westalte‘, der als Bruder des ‚Ostalten‘ dargestellt wird, ist als „Westevaluierer“[10] für die Evaluation des Instituts zuständig und stürzt seinen Bruder in ein Gefühl der Heimatlosigkeit:

Alles was sich angestaut hatte, brach plötzlich auf. Wut, daß man ihn mit solchen Spinnern in einen Topf warf. Wut, daß diese glaubten, ihn einvernehmen zu können. Wut auf sich selbst, auf den unsinnigen Schmerz, der ihn, ob er es nun wollte oder nicht, mit dem anderen verband. Den Schmerz, heimatlos geworden zu sein.[11]

Während der ‚Westalte‘ offiziell den ‚Ostalten‘ um seine Stellung bringt, kommt man sich privat durchaus näher: Der ‚Ostalte‘ reist schließlich sogar zu seinem Bruder in den Westen, um mit ihm Silvester zu feiern. Die dort gewonnenen Eindrücke fallen nüchtern-distanziert aus; der Westen erscheint glatt und austauschbar. Königsdorfs Roman endet mit Ruth Makuleits zwangsweise erfolgender Aufgabe der Wohnung. Der Name der Straße wird geändert, womit eine völlige Entfremdung eintritt: Sie „las zwar den Namen, der auf dem neuen Schild stand, aber sie vergaß ihn sofort wieder. Sie würde nie erfahren, welche Verdienste der Namensgeber hatte.“[12] Äußerlich erscheint die Ordnung damit wiederhergestellt, allerdings unter anderen Vorzeichen. Mit dem zunächst erfolgenden Rückzug als Konsequenz aus den ‚impliziten‘ Migrationsprozessen, einer dann erfolgenden Reise in den Westen und der Rückkehr in den Osten folgt Helga Königsdorf einem Muster, das sich in mehreren Romanen aus den ersten Nachwendejahren zeigt, so auch in Brigitte Burmeisters (*1940) Unter dem Namen Norma (1994).

Der Text besteht formal aus zwei großen Kapiteln, die mit historischen Daten überschrieben sind: „Am 17. Juni“ und „Am 14. Juli“. Beide Daten verweisen auf je unterschiedliche Aspekte des Revolutionären: den Arbeiteraufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 und den Sturm auf die Bastille vom 14. Juli 1789. Die Rahmenhandlung bilden eben diese zwei Tage Anfang der 1990er-Jahre im Leben der Ich-Erzählerin Marianne Arends, die als Übersetzerin arbeitet. Im Vordergrund stehen dabei nicht die wenigen real vollzogenen Handlungen, sondern Mariannes zahlreiche Erinnerungen und Reflexionen. Die ‚Wende‘-Ereignisse werden in Unter dem Namen Norma lediglich am Rande dargestellt und vergleichsweise spät nachgetragen. Sie bilden allerdings die Grundlage für die Handlung, zumal Marianne und Norma sich in der Nacht des 9. November 1989 kennengelernt haben. Um die Ereignisse nicht zu vergessen, aber auch im Sinne einer Selbstvergewisserung, zwang die Protagonistin sich, diese aufzuschreiben: „Als hätte ich üben wollen, von Veränderungen zu erzählen, die mir unvorstellbar erschienen waren.“[13]

Ihr Bedürfnis nach dem ‚Bewahren‘ von Geschichte zeigt sich auch in ihrer Beschäftigung mit der Korrespondenz der ehemaligen Hausbewohnerin Clara Lentz. Diese war 1927 nach Kalifornien ausgewandert, hieß fortan Claire Griffith und stand im Briefwechsel mit ihrer in Berlin gebliebenen Freundin Minna König. Minna hatte gemeinsam mit ihren Schwester Erna und Ella im selben Haus wie Marianne Arends gewohnt, alle drei erlebten den Fall der Mauer nicht mehr. Durch die Einbeziehung der Briefe und Postkarten wird zum einen die Geschichte des Kalten Krieges evoziert, zum anderen erfährt der Aspekt der Migration hier eine Verdoppelung, denn am Schicksal der Clara Lentz wird der Aspekt der Entfremdung thematisiert: Nahezu alle Briefe zeugen von einer Entwurzelung der nach Amerika Gegangenen, die sich in Kalifornien fremd fühlt. Mehrfach bekennt sie, Heimweh nach Deutschland zu haben, doch das ihr vertraute Deutschland existiert nicht mehr. Diese Entwurzelungsprozesse sind durchaus denjenigen vieler Ostdeutscher nach der ‚Wende‘ vergleichbar, denn auch diese Prozesse erfolgten im Hinblick auf den Wandel des Alltags nahezu schlagartig. Das ‚Ankommen‘ in einer von westdeutschen Maßstäben geprägten Welt ist vielfach nicht gelungen; Marianne Arends bringt dem Westen ähnliche Fremdheitsgefühle entgegen wie Clara Lentz Jahrzehnte zuvor den USA. Wie bei Lentz gehen diese Gefühle einher mit dem Wunsch nach einem Bewahren des Vergangenen.

Auch in Unter dem Namen Norma unternimmt die Hauptfigur eine Reise nach Westdeutschland: Marianne reist ihrem Mann Johannes nach. Unterwegs stellt sie fest:

Um die Mittagszeit erreichten wir den neuen Landesteil. Ich sah Bauten, die ganz neu, andere, die erneuert waren, frisch gedeckte Dächer, helle Farben, hervorstechend aus dem Unveränderten, Vorstöße einer Erneuerung, die um sich greifen würde, das war absehbar, das Ende nicht. Vielleicht schneeweiße Dörfer in der Magdeburger Börde und auf Potsdam zu, geleckte Ortschaften nach naheliegenden Vorbildern.[14]

In Burmeisters Roman begegnen sich Ost- und Westdeutsche selten zufällig; stets werden sie explizit miteinander konfrontiert. Am Beispiel dieser Begegnungen werden zugleich wechselseitige Klischeevorstellungen deutlich gemacht, aber auch als solche entlarvt. Einmal mehr spielt der Aspekt der ‚Fremdheit‘ eine wesentliche Rolle, etwa wenn es über ein westdeutsches Paar heißt, das „im Osten unterwegs“ ist:

Die Frau blätterte in einer Broschüre, der Mann studierte den Stadtplan, zwischendurch griffen sie nach den Gläsern mit Mineralwasser, wechselten ein paar Worte, lasen weiter, waren ganz unbefangen in einer Umgebung, die ihnen fremder sein mußte als ihr Hotel in Kenia oder auf den Malediven oder wo immer sie die Ferien verbracht hatten, geübte Reisende und als solche im Osten unterwegs, vielleicht absichtlich von der Touristenroute abgewichen auf der Suche nach Authentischem, dann erschöpft in das erstbeste Lokal eingekehrt, für einen Schluck Wasser und um den Rückweg zu planen […].[15]

Max, ein Freund Mariannes, spult dem Paar gegenüber die Geschichte der ‚Wende‘-Ereignisse ab. Er „erzählte. Stasigebäude, Bürgerkomitees, Mahnwache, Hungerstreik.“ Sie selbst distanziert sich von diesen „hölzernen Heldengeschichten. Warum konnte er nicht still sein, mich allein lassen.“[16] Das Gespräch des Paares mit einem Ostdeutschen muss Marianne akustisch nicht genau verstehen; sie kennt die Muster, nach denen Gespräche zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen häufig ablaufen. Ihre Abneigung richtet sich vor allem gegen die Oberflächlichkeit der Westdeutschen, die „immer schon Bescheid [wüssten], diese aufgeblasenen Originale, für die der Osten bevölkert ist von Stereotypen!“[17] Doch nicht nur die Westdeutschen sind ihr fremd, sondern der gesamte Westen, wie an ihren Eindrücken deutlich wird:

Vornehme Bahnhöfe, Wohlstandsgeruch tief aus den Poren. Bauten und Gegenstände waren gediegen, geschmackvoll, gemacht für lange Dauer und fürs Auge auch, sogar Plastik sah besser aus als bei uns. Es gab Rolltreppen, Transportbänder, Aufzüge, Gepäckkarren, alles kostenlos. Niemand mußte sich quälen mit Traglasten, auch nicht mit Hunger oder Durst. Essen und trinken, nichts leichter als das, schwierig höchstens die Entscheidung, wo am besten.[18]

Der neuen Fremdheit begegnet sie mit Unsicherheit; es fällt ihr schwer, Einschätzungen vorzunehmen. Sie hat Kontaktschwierigkeiten, und ihre Gefühle der Distanz angesichts der neuen Nachbarn steigern sich bis zu Phantasien, in denen sie sich den Westdeutschen gegenüber als minderwertig ansieht: „Hallo, meine Liebe, Sie müssen noch eine Menge lernen, man merkt doch gleich, wo Sie herkommen, Schaumwein und Sättigungsbeilagen, sagten sie lächelnd, zogen die Dauerwellen ein und die Köpfe zurück durch die beiden Löcher in der Decke, die sich über mir schlossen wie Augenlider.“[19] Auf einer Party, die sie gemeinsam mit ihrem Mann gibt, werden die stereotypen Vorstellungen der Westdeutschen von den Ostdeutschen besonders augenfällig. So kennt Marianne keinen Rucola-Salat. Corinna Kling, ein Gast, äußert daraufhin:

– Und ich dachte, sagte Corinna, bei Ihnen im Osten hätten sich die alten Eßgewohnheiten erhalten, wo doch alles rückständiger war. Nicht immer ein Mangel. Zum Beispiel die wundervollen –
– Alleen, sagte ich.
– Genau. Die habe ich selbst gesehen, bei einer Autofahrt durch Mecklenburg, im Sommer nach der Wende. Ein Ausflug in die fünfziger Jahre. Traumhaft, zumindest aus der Touristenperspektive. Für die Einheimischen war es gewiß ganz anders. Hart. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin und will mir auch kein Urteil anmaßen. Halten Sie mich nicht –, ich verabscheue das arrogante Auftreten all dieser –
– Besserwessis, sagte ich.
– Sie sagen es. Die Ratschläge von oben herab, derart peinlich. Und die Vorurteile. Seit dem Wochenende in Mecklenburg habe ich die neuen Länder nicht mehr betreten. Man ist auch mit dem eigenen Leben viel zu sehr beschäftigt.[20]

Mühelos gelingt es Marianne also, die Repliken der Westdeutschen vorwegzunehmen. Sie wird zunehmend aggressiv, zumal ihr die Partygespräche ganz offensichtlich zuwider sind. Im Gespräch mit Corinna Kling erfindet sie sich schließlich eine Biographie, die ihres Erachtens einen aus Westperspektive typischen DDR-Lebenslauf darstellt. Ihre Lügengeschichte erzählt Marianne im vollen Bewusstsein ihrer geistigen Kräfte. Sie unterbricht ihre Darstellung an bestimmten Stellen, um Corinna die Möglichkeit zum Nachfragen zu geben – ein Verhalten, mit dem sie allerdings indirekt auch ihre eigenen stereotypen Vorstellungen von Westdeutschen offenbart. Unter anderem infolge dieser Episode kommt es zum Bruch mit Johannes. Am Ende des Buches, nach Mariannes Rückkehr aus Mannheim, schließen sie und Norma im Zeichen Saint-Justs einen Freundschaftsbund, der unter der Zeugenschaft von Max „unter dem Namen Norma“ vollzogen wird. Freundschaft kann hier als stabilisierendes Element der Gesellschaftsordnung verstanden werden – ein Modell, das zumindest für die beiden Frauen stimmig ist, denn mit der Schließung des Bundes stabilisiert sich Mariannes Identität wieder.

Ähnlich wie bei Königsdorf und Burmeister ist die Hauptfigur von Jens Sparschuhs „Heimatroman“ Der Zimmerspringbrunnen zunächst auf sich selbst zurückgeworfen. Arbeitslos geworden, hat Hinrich Lobek die Orientierung verloren. Denn, so der Protagonist: „Ohne auch nur den Fuß vor die Tür zu setzen, hatte ich mein altes Heimatland verlassen (bzw. es mich).“[21]  Ohne aktiv an diesen Prozessen beteiligt zu sein, ändert sich alles um ihn herum: „[…] heimlich, über Nacht sozusagen, waren wir aus unserer Straße umgezogen worden. Sie trug jetzt einen anderen Namen.“[22] Er wird „immer schweigsamer“[23] und kapselt sich von der Außenwelt ab, die ihm zunehmend fremd wird und sogar feindlich erscheint. Lobeks Rückzug kann als Parodie auf eine Robinsonade gelesen werden: Da er sich durch sein Verhalten auch immer weiter von seiner in die Marktwirtschaft geradezu durchstartenden Ehefrau Julia entfernt, wird sein Hund Hasso, den er in „Freitag“ umtauft, zur einzigen Bezugsperson. Nach der Lektüre seines Horoskops entschließt er sich zur Bewerbung bei „PANTA RHEIn“, einem Unternehmen, das Zimmerspringbrunnen vertreibt. Er wird eingestellt und fährt erstmals in den Westen, um im Schwarzwald an einer Vertreterkonferenz teilzunehmen. Allein, im Aufenthaltsraum seiner Unterkunft, entfahren ihm „wie zwanghaft“ die Worte: „Ich liebe meine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik.“[24] Heimat im Sinne einer Identität wird auch hier also erst im Nachhinein konstitutiert.

Eher durch Zufall als auf seine eigene Initiative hin gelingt Lobek der Durchbruch: mit dem ostalgischen Zimmerspringbrunnenmodell Atlantis. Jenes auf den Grundformen der DDR beruhende Modell bedient exakt die Gefühle zahlreicher sich ebenfalls heimatlos fühlender Bürgerinnen und Bürger der östlichen Bundesländer:

Natürlich, etliche betrachteten das als Kuriosum, als Partygag vielleicht. Die meisten aber behandelten ATLANTIS wie einen Kultgegenstand. Es waren regelrechte Altarecken, wo er landete; manchmal hatte ich den Eindruck, in einem Traditionskabinett gelandet zu sein. Ich wurde, wenn ich auf Empfehlung kam, als Gesinnungsgenosse begrüßt […]. Vor allem unter den Mitgliedern eines mir bis dahin unbekannt gebliebenen halblegalen „DDR-Heimatvertriebenen-Verbandes“, der erstaunlich gut und straff organisiert war, gelangen mir spektakuläre Verkäufe […].[25]

Auch in anderen Texten des 1955 in Karl-Marx-Stadt geborenen Philosophen und Schriftstellers spielt der Aspekt des Heimatverlusts eine wesentliche Rolle, beispielsweise in Transitraum Berliner Zimmer (1996) – ein zuerst im „Tagesspiegel“ vom 30.07.1996 abgedruckten Essay, in dem er sich an das so genannte ‚Berliner Zimmer‘ seiner alten Pankower Wohnung erinnert. Jenes liegt „als Verbindungsstück zwischen den Zimmern im Vordertrakt und denen im Seitenflügel; lediglich in der äußersten Ecke ein Fenster zum auch tagsüber dämmerigen Hofschacht. Ein Durchgang. Aber für einen solchen viel zu groß.“[26] Im Grunde genommen existiert dieser Raum jedoch nur noch als Erinnerung:

Je mehr ich versuche, mich zu erinnern, desto undeutlicher wird das Bild, desto irrealer wird der Raum, in den ich mich zurückversetzen will. Seine Existenz ist unter den verschiedenen, sedimentgleich übereinanderliegenden Erinnerungsschichten vergraben; fast unauffindbar. Denn es ist ja ein jeweils anderes Ich, das sich zu verschiedenen Zeiten, mit unterschiedlichen Intentionen etwas ins Gedächtnis ruft. Es bleiben nur schlecht zueinander passende Bruchstücke.[27]

In Jagdgründe der Kindheit (zuerst erschienen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 07.09.1995) wird der Ich-Erzähler gebeten, „[d]ie Geschichte [seiner] ersten Ferienreise“ zu schreiben, die „eine Kombination […] aus autobiografischen Erinnerungen und Vergleichen mit der Gegenwart“[28] sein soll. Dabei muss der Erzähler jedoch feststellen, dass eine „Wiederholungsreise“ wenig ergiebig wäre, müsste diese doch in ein Land führen, „in das man heute nicht einfach, in das man heute einfach nicht mehr einreisen kann und das noch unerreichbarer ist, als es mir damals jedes Tokio dieser Welt war. Ein Land vor unserer Zeit, vom Erdboden verschwunden. Es ist das Land meiner Kindheit in der DDR“.[29] Es führt aber „kein Weg dorthin zurück“[30], und der Erzähler erklärt:

Sicher, man könnte heute dorthin zurückfahren, ratlos touristisch zwischen Steinen herumsteigen. Aber es wäre unmöglich, wenn nicht sogar albern, wollte man das Land von damals wiederfinden … Die einzelnen Bestandteile gibt es wohl noch. Aber das Ich, das den geheimen Bauplan kannte, um stumm die Teile zusammenzufügen zu einer eigenen, sprechenden Welt, in der die Steine mehr waren als nur Steine und die Felsspalten natürlich Höhlen […] – dieses Ich existiert längst nicht mehr.[31]

Heimat wird hier also eher im Blochʼschen Sinne in der Kindheit verortet, wie Ernst Bloch am Ende von Das Prinzip Hoffnung (1959) darlegt. Der de facto einmal vorhanden gewesene Raum wird somit für das Rückschau haltende Subjekt zum Erinnerungs- und Projektionsraum; auch dies mag eine Form der Migration darstellen.

Betrachtet man Königsdorfs, Burmeisters und Sparschuhs Romane gemeinsam, so zeigt sich, dass die Begriffe ‚implizite‘ und ‚explizite Migration‘ nur bedingt voneinander getrennt werden können. Denn beide Kategorien verweisen auf weitaus größere Zusammenhänge der Identitätskonstruktion in einer fremden beziehungsweise fremd gewordenen/entfremdeten Welt. Während die ‚impliziten‘ Migrationen vor allem auf Rückzüge deuten, finden die ‚expliziten‘ Migrationen ihren Ausdruck in der Darstellung erster Erfahrungen in Westdeutschland und in Reiseerfahrungen. Der von mehreren Autoren thematisierte Heimatbegriff ist häufig unmittelbar an den Aspekt des Utopieverlusts gebunden. Im Grunde genommen handelt es sich also um zwei Seiten derselben Medaille. Die literarischen Figuren reagieren ähnlich wie ihre realen Vorbilder: mit Flucht, ‚ostalgischen‘ Tendenzen und weiteren Formen des Rückzugs und der Abgrenzung. Literarische Texte eröffnen auf Grund ihrer potenziellen Multiperspektivität jedoch die Möglichkeit, verschiedene Positionen einander gegenüberzustellen. Zumindest Burmeister und Sparschuh beschäftigen sich auch auf der Metaebene mit Formen der Migration; bei Sparschuh sind zudem die – eine gewisse Distanz schaffenden – satirischen Elemente stark ausgeprägt.

Viele der literarischen Migrationsdarstellungen sind übrigens in transitorischen Räumen angesiedelt, insbesondere in Zügen und auf Bahnhöfen. Es ist kein Zufall, dass sich Hinrich Lobek am Ende von Der Zimmerspringbrunnen auf dem Bahnhofsvorplatz wiederfindet und Durchgangszimmer sowohl bei Königsdorf als auch bei Sparschuh eine Rolle spielen. Alle drei hier betrachteten Texte enden im Ungewissen, Vagen, Offenen. Thomas Rosenlöcher (*1947) erhebt in seiner „Harzreise“ Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern das Transitorische zum zentralen Moment, wenn nicht gar zum poetologischen Prinzip seines Textes: Der Erzähler begibt sich am 1. Juli 1990 auf eine Wanderung in den Harz, „um wenigstens andeutungsweise wieder Gedichte schreiben zu können.“[32] Volker Braun (*1939) schließlich brachte den Aspekt der ‚impliziten‘ und expliziten‘ Migration in Das Eigentum, einem der prominentesten ‚Wende‘-Gedichte, zum Ausdruck; es erschien im August 1990 sowohl im „Neuen Deutschland“ als auch in der „Zeit“ und beginnt mit der Zeile „Da bin ich noch: Mein Land geht in den Westen.“[33]

Die hier thematisierten Phänomene erscheinen vor allem in literarischen Verarbeitungen der ersten Jahre nach der ‚Wende‘. Die dort geschilderten Migrationsbewegungen beziehen sich also auf räumliche und zeitliche Prozesse zwischen Abschied, Aufbruch und Ankunft – das mögliche Scheitern der Ankunftsprozesse inbegriffen. Dass die vorgeschlagenen Kategorien der ‚impliziten‘ und ‚expliziten‘ Migration lediglich Hilfskonstruktionen sein können und auch die Dichotomie des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ allzu schematisch ist, dürfte selbstverständlich sein. Mit wachsendem historischen und wohl auch emotionalen Abstand werden in der Literatur inzwischen häufiger weitaus umfassendere Entwicklungen beschrieben: Momentaufnahmen aus der Zeit der ‚Wende‘ treten in den Hintergrund zu Gunsten von differenzierteren Auseinandersetzungen mit der DDR, wie sich beispielsweise an Uwe Tellkamps (*1968) Der Turm (2008), Eugen Ruges (*1954) In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) und zahlreichen weiteren Romanen zeigen ließe.

Hinweis:

Der vorliegende Beitrag basiert auf Vorträgen, die der Verfasser in verschiedenen Kontexten hielt: am 01.04.2011 im Rahmen der Journée d’étude Unification et Déplacement(s) en Allemagne de l’Est an der Université Lumière – Lyon 2, Institut des Sciences de l’Homme (ISH), Centre de Recherche Langues et Cultures Européennes (LCE), Groupe de recherche sur l’Allemagne contemporaine; am 13.04.2011 im Rahmen des Forschungskolloquiums, Universität Göteborg, Institutionen för språk och litteraturer sowie am 16.06.2011 im Rahmen der MOVENS-Tagung/Summer School Kultur-Beziehungen/Cultural Relations, Queen Mary, University of London, Centre for Anglo-German Cultural Relations. Frühere, ausführlichere Fassungen finden sich auf Französisch in: Allemagne d’aujourd’hui (2011) 198, S. [130]-147. bzw. auf Deutsch in: Germanistische Studien (Tbilissi) 11 (2014), S. 161-177). Die Textanalysen insbesondere von Burmeister und Sparschuh basieren auf Frank Thomas Grub: ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch. Band 1: Untersuchungen. Berlin/New York 2003.

Anmerkungen:

[1] Helga Königsdorf: Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds. Reinbek 1990, S. 9.

[2] Ebd., S. 33.

[3] Helga Königsdorf, Helga: Aus dem Dilemma eine Chance machen. Aufsätze und Reden. Hamburg/Zürich 1991, S. 7.

[4] Ebd., S. 12.

[5] Ebd., S. 51.

[6] Helga Königsdorf: Im Schatten des Regenbogens. Roman. Berlin/Weimar 1993, S. 68.

[7] Ebd., S. 9.

[8] Ebd., S. 8.

[9] Ebd., S. 9.

[10] Ebd., S. 50.

[11] Ebd., S. 80.

[12] Ebd., S. 174.

[13] Brigitte Burmeister: Unter dem Namen Norma. Roman. Stuttgart 1994, S. 196f.

[14] Ebd., S. 183.

[15] Ebd., S. 83.

[16] Ebd., S. 84.

[17] Ebd., S. 252.

[18] Ebd., S. 206f.

[19] Ebd., S. 215.

[20] Ebd., S. 218f.

[21] Jens Sparschuh: Der Zimmerspringbrunnen. Ein Heimatroman. Köln 1995, S. 36.

[22] Ebd., S. 38.

[23] Ebd., S. 16.

[24] Ebd., S. 55.

[25] Ebd., S. 105f.; Hervorhebung im Original.

[26] Jens Sparschuh: Ich dachte, sie finden uns nicht. Zerstreute Prosa. Köln 1997, S. 12.

[27] Ebd., S. 13.

[28] Ebd., S. 74.

[29] Ebd.

[30] Ebd., S. 81.

[31] Ebd., S. 82.

[32] Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Frankfurt a.M. 1991, S. 9.

[33] Volker Braun: „Das Eigentum“. In: Braun, Volker: Die Zickzackbrücke. Ein Abrißkalender. Halle 1992, S. 84.