Berichte aus einer dunklen Zeit

Raya Kruks Erfahrungsbericht "Lautlose Schreie"

Von Doris KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Ausschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an, wegzuschauen."

In diese Worte faßte Martin Walser seine Beobachtungen an sich selbst, als er im Herbst vergangenen Jahres in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennahm. Walsers Vermutung über die Motive der "Intellektuellen", die uns beständig unsere Schande vorhalten, läßt sich weder bestätigen noch wiederlegen. Wir wissen nicht, ob sie sich entlastet glauben von der Schande, wenn sie einmal mehr am kollektiven Erinnerungsdienst gearbeitet haben. Das weltweite Interesse an diesem Teil deutscher Geschichte ist stets in die Vergangenheit gerichtet; sie ist der Ort, an dem der Schrecken gestattet, ja gefordert ist. Der Ort, an dem das Böse heraufbeschworen und bezwungen wird. Das Geschehene ist, um die für tauglich befundene Sprache zu engagieren, zu unfaßlich, zu zynisch, als daß man es in die Gegenwart hineinzunehmen wagte.

Das Grauen ist hinter der Pforte der Historie gut verwahrt; die Vergangenheit - ein gewissermaßen sicherer Ort. Walser sagt, es gebe Dinge in einer Schmerzhaftigkeit, die für wahr zu halten über seine moralisch-politische Phantasie hinausgehe. Worauf er abzielt, sind nicht etwa die NS-Verbrechen; es sind Bilder von heute, die er nicht wahrhaben will, und - schlimmer noch - von morgen: "Würstchenbuden vor brennenden Asylantenheimen."

Wie die immerwährende Bestätigung des Schreckens liest sich das Verzeichnis der Frühjahrstitel der deutschen Verlage, Rubrik Zeitgeschichte: Von über hundert Titeln befassen sich 44 mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, dem Dritten Reich und seiner Analyse, dem aussichtslos scheinenden Unterfangen des Begreifens. Weitere zehn Titel beschäftigen sich mit der Zeit unmittelbar davor und danach. Einen eindrucksvollen Band hat auch Raya Kruk im Fischer Verlag veröffentlicht: "Lautlose Schreie. Berichte aus dunklen Zeiten".

Die dunkle Zeit beginnt 1939, als die jüdische Familie aus ihrer Heimatstadt Kowno in Litauen ins Baltikum fliehen muß. Raya verbirgt sich mit ihrer Mutter 1941, nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, im Kownoer Ghetto. Dort, an dem vermeintlichen sicheren Ort, überlebt sie schließlich bis zu seiner Auflösung 1943 - unter menschenunwürdigen Umständen. "Lautlose Schreie" ist ein Bericht über innere und äußere Zerstörung - ein Bericht über Verlust, Demütigung und den Schrecken der Vernichtung. Die einzelnen Kapitel heißen "Erstes Exil", "Nochmals Flucht", "Einzug ins Ghetto" oder "Tanja": Man tut gut daran, sich für jedes Kapitel Zeit und zwischen den Einheiten Auszeiten zu nehmen.

Nach mehr als 50 Jahren des Schweigens erinnert sich die Autorin an Menschen, Orte und den Schmerz. Fotografien, heimlich aufgenommen von Zwi Kadushin, geben Einblick in das Leben im Ghetto. Das Buch schildert individuell wahrgenommene Erlebnisse während des Dritten Reiches, es geht ihm weder um die geschichtliche Einordnung noch um die großen politischen Linien. Im zweiten Teil finden sich Passionsgeschichten von Leuten, die den Lebensweg der Autorin gekreuzt haben. Die Sprache, die Kruk verwendet, ist schlicht, ungeschliffen, pragmatisch. Das Tempo verringert sich dort, wo Kruk die Geschichten der anderen einflicht. Hier scheint es, als gestatte die Vorstellung des Grauens - im Gegensatz zur Erinnerung - einen winzigen Spiel-Raum, an Sätzen zu schleifen.

Das eigene Elend ist dem Elend der anderen - und sei es noch so ähnlich - nicht vergleichbar. Die große, vielleicht überlebenswichtige Distanz, mit der Kruk das Unbeschreibliche beschreibt, zwingt zudem zu der Frage, ob es je echte Bewältigung geben kann. Wie würde sie beschaffen sein, wie wirken?

Dieses Buch ist nicht deshalb erschienen, weil es noch nichts Vergleichbares gäbe, weil niemand sonst sich mit dieser Vergangenheit beschäftigt hätte. Es ist erschienen, weil eine Überlebende es vermochte, sich mit ihrer persönlichen Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Titelbild

Raya Kruk: Lautlose Schreie.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1999.
8,60 EUR.
ISBN-10: 3596139783

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