Ein Mysterium

Wer erhält den Nobelpreis für Literatur? Etwa zehn Prozent aller Literaturnobelpreise gingen bisher an Frauen

Von Simone FrielingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Frieling

Obwohl es schon fast als Gemeinplatz gilt, dass in Deutschland immer weniger gelesen wird, erwartet man doch hierzulande jedes Jahr wieder mit Spannung die Entscheidung der Schwedischen Akademie. Die Frage, wer den Literaturnobelpreis erhalten wird, interessiert sogar ausgesprochene Nichtleser. Um das Interesse an dem Procedere zu steigern, beginnen die Medien bereits im ‚Sommerloch‘ zu raunen, zu spekulieren, Listen mit großen Namen an die Öffentlichkeit zu geben, von denen die Journalisten vorgeben, sie aus sicheren Quellen zu haben, die sie nicht preisgeben dürfen. Denn die Aufmerksamkeit der Leser muss von Juni bis in den Oktober hinein wach gehalten werden.

Also werden die 18 Juroren, besonders der Ständige Sekretär, in den letzten Wochen vor Bekanntgabe von den Journalisten belagert, ausgeforscht und beobachtet. Das führt zu weiteren Spekulationen, denn ‚die Achtzehn‘ sind angehalten, zu schweigen oder die lästige Meute in die Irre zu führen. Interviews werden verweigert oder Decknamen für die Kandidaten der Shortlist erfunden. Harold Pinter zum Beispiel „nannten sie Harry Potter“, plauderte der schwedische Verleger Svante Weyler nach angemessener Zeit aus. Und noch einige andere Tricks werden angewendet, um sicher zu gehen, dass die Entscheidung bis zum Ende geheim bleibt. Im Internet stehen Wettlisten, bekannte Persönlichkeiten nennen die Namen ihrer Favoriten, und große Verleger wünschen öffentlich, dass endlich ihre Bestsellerautoren zum Zuge kommen. Am Ende aber macht die Schwedische Akademie das, was sie will, und setzt damit alle in Erstaunen.

Für die meisten Menschen ist die Entscheidung der Schweden nicht nachvollziehbar. Manche jubeln, einige nicken resigniert, andere verwünschen die neuerliche Fehlentscheidung. Sie halten die Juroren für inkompetent, unbelesen und weltfremd, da ihnen die Auswahlkriterien der Kandidaten auf der Shortlist verborgen bleiben und es kaum konkrete Hinweise gibt, warum herausragende Autoren/innen den Nobelpreis nicht bekommen haben, während mittelmäßige ausgezeichnet wurden. Auch die Belesenen zweifeln an dem Geschmack der Jury, besonders wenn sie sich die Liste der 111 Preisträger vergegenwärtigen, von denen sie vielleicht weniger als die Hälfte kennen. Allgemein wird bemängelt, dass zu selten populäre Schriftsteller berücksichtigt werden. Kundige Leser kritisieren die Mittelmäßigkeit der Ausgelobten. Frauen bedauern, dass seit 1901 zu wenige Autorinnen ausgezeichnet worden sind. Während aber immerhin etwa zehn Prozent aller Literaturnobelpreise an Frauen gingen, steht es um die Geschlechtsgenossinnen in den Naturwissenschaften noch schlechter: Sie kommen nur auf zwei Prozent.

Das ungleiche Geschlechterverhältnis hat viele Ursachen, eine davon, die man konkret benennen kann, ist die Zusammensetzung der Schwedischen Akademie. Die Schwedische Akademie, die 1786 von König Gustav III. nach dem Vorbild der Académie française gegründet worden ist, hatte bis zu dem Eintritt Selma Lagerlöfs im Jahr 1914 keine Frau als Mitglied, nicht einmal als Mitglied des Nobelkomitees, das 1901 seine Arbeit aufnahm. Zwar hatte Alfred Nobel für den Friedensnobelpreis ‚die Frau seines Lebens‘, Bertha von Suttner, platziert, aber an eine Frauenquote in den Jurys der einzelnen Sektionen dachte damals noch keiner.

Auch Selma Lagerlöf war es nicht gegeben, in den 26 Jahren ihrer Mitgliedschaft auf ‚Stuhl 12‘, die mit ihrem Tode 1940 endete, die siebzehn „alten Herren“ zu bewegen, eine weitere Frau in die Akademie zu wählen. Etwa 200 Mitglieder dienten und dienen der Schwedischen Akademie bis heute, darunter befanden sich insgesamt nur 7 Frauen. Nach Lagerlöf wurde erst wieder 1978 die Schriftstellerin Kerstin Ekman in die Akademie berufen, die sie wegen der ‚Rushdie-Affäre‘ aber schon 1989 unter Protest wieder verließ, was jedoch von Seiten der Akademie ignoriert wird, da die Mitgliedschaft lebenslang gilt. 1992 berief man die Dramatikerin Katarina Forstenson auf ‚Stuhl 18‘ und die Kritikerin Britta Trotzig 1993 auf ‚Stuhl 6‘. Sie verstarb aber schon 2011. Ihnen folgten dann Kristina Lugn 2006, Lotta Lotass 2009 und Sara Danius 2013, so dass heute nur 4 Frauen aktiv in der Akademie mitarbeiten.

Vielleicht aber bringt das Jahr 2015 in der Sektion für Literatur eine Wende. Denn zum ersten Mal in der Schwedischen Akademie steht nun eine Frau an der Spitze der Jury des Nobelkomitees für Literatur. Die Literaturwissenschaftlerin Sara Danius hat das Amt des Ständigen Sekretärs von Peter Englund übernommen, obwohl die 53-jährige Schwedin ‚den Achtzehn‘ erst seit zwei Jahren angehört. Schon 2014 war sie an der Entscheidung beteiligt, dem Franzosen Patrick Modiano den Preis zukommen zu lassen. 2015 wird sie also als Jurychefin den Literaturnobelpreisträger oder die Preisträgerin verkünden. Der Schriftsteller Englund bleibt der Akademie als normales Mitglied erhalten, auch Englunds Vorgänger Horace Engdahl und Sture Allén gehören noch dem Gremium an. Die lebenslange Mitgliedschaft in der Akademie erklärt den seltenen Wechsel ihrer Mitglieder und damit eine gewisse Schwerfälligkeit.

Das weit verbreitete Vorurteil gegenüber den Mitgliedern des Nobelkomitees, es handele sich bei ihnen um eine vergreiste Altherrenriege, die begrenzt in ihren Ansichten und voller Ressentiments sei, hat Kjell Espmark in seinem 1986 erschienenen Buch Der Nobelpreis für Literatur. Prinzipien und Bewertungen hinter den Entscheidungen widerlegt. Vielmehr beschreibt er die Juroren als sachkundig und belesen. Anhand ausführlich wiedergegebener Diskussionen über einzelne Kandidaten erfährt man, mit welcher Sorgfalt und Redlichkeit die Akademie von Anfang an versucht hat, vorzugehen. Und zugleich betont er, dass die Absichten Nobels von der wechselnden Sensibilität der Juroren einmal mehr und einmal weniger berücksichtigt worden sind und es natürlich verschiedene „Phasen in der Geschichte des Literaturpreises im Hinblick auf die Bewertungsnormen“ gegeben hat und in Zukunft geben wird. Espmark arbeitet in seinem Buch sehr differenziert heraus, wie „jede Zeit ihre besondere Prägung besitzt“ und diese in das Urteil einfließt. Engdahl formuliert es heute so: „Die Akademie spiegelt natürlich immer auch den Zeitgeist wieder.“

Das Wichtigste an der Beschäftigung mit dem Thema aber ist, dass die Geschichte des Nobelpreises für Literatur „ein einzigartiges Beispiel literarischer Rezeption“ bietet. Im Dunkeln bleibt dabei, warum Virginia Woolf, um nur eine der wegweisenden Autorinnen des 20. Jahrhunderts zu nennen, die in den dreißiger Jahren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens angekommen war, nicht einmal in Erwägung gezogen worden ist, während die rückwärtsgewandte Grazia Deledda den Preis für das Jahr 1926 erhielt und die literarisch weniger bedeutende Pearl S. Buck 1938 ausgezeichnet wurde. Rechtfertigen lassen sich diese Fehlentscheidungen nicht, aber durch die Verunsicherung der Zwischenkriegsjahre und die Isolation Schwedens im Zweiten Weltkrieg erklären.

Als das Komitee sich 1965 nach langen Diskussionen entschieden hatte, den Nobelpreis nicht alleine an Nelly Sachs zu vergeben sondern ihn aufzuteilen, brachte Henry Olssons die Namen Anna Achmatowa und Ingeborg Bachmann ins Spiel. Achmatowas Größe teilte sich der Akademie erst nach ihrem Tod mit; man bereute das Versäumnis, das nun nicht wieder rückgängig zu machen war, da die Russin im März 1966 starb. Die ihr ebenbürtige Lyrikerin und Landsmännin Marina Zwetajewa hatte man nie in Erwägung gezogen. Ihre internationale Beachtung begann erst 20 Jahre nach ihrem Selbstmord 1941, nachdem Ariadna Efron, die als einzige der Familie den Zweiten Weltkrieg überlebt und das Werk ihrer Mutter zusammengetragen hatte, es publizieren ließ. Ähnlich ging es Else Lasker-Schüler, „der einzigen bedeutenden Dichterin des eigentlichen Expressionismus“, so Espmark, die 1945 starb.

Zwar sprach man Nelly Sachs expressionistische Wurzeln zu – was vielleicht doch ein Irrtum war –, aber weder ein großer Expressionist noch ein Surrealist oder Dadaist wurde je ausgezeichnet. Überhaupt tat sich das Komitee Jahrzehnte lang mit moderner avantgardistischer Literatur schwer. Erst nach der Jahrtausendwende wandte sich die Akademie ab und an der experimentellen Literatur zu.

Als Ernest Hemingway 1954 den Nobelpreis erhielt, sprach er sich für seine dänische Kollegin Karen (Tania) Blixen aus, die er eine „der großen Frauengestalten“ des Jahrhunderts nannte. Hemingways großzügige Geste warf ein Schlaglicht auf das Werk von Blixen. Doch Dag Hammarskjöld schmetterte den Vorschlag des Nobelpreisträgers 1955 mit deutlichen Worten ab. Schließlich gelang Blixen 1962 in die engere Wahl; ihr Tod am 7. September desselben Jahres beendete die Diskussion im Komitee und den Konflikt zwischen Befürwortern und Kritikern. Letztere empfanden Blixens Sicht auf Afrika als rassistisch und warfen ihr Feudalherrlichkeit vor.

Seit Jahren wird nun Joyce Carol Oates zu den Anwärtern auf den Nobelpreis für Literatur gerechnet. Ob Sara Danius so wagemutig ist, die amerikanische Autorin zu favorisieren, die sich mit ihrem letzten Roman Die Verfluchten nicht empfohlen hat? Ob und welche andere Autorin mit Oates schon länger auf der Short-List steht, ist nicht bekannt.

Die fehlende Transparenz der Schwedischen Akademie und die daraus folgende Skepsis ihr gegenüber bekommt man jedes Jahr im Oktober wieder zu spüren, wenn die Bekanntgabe des Nobelpreisträgers erfolgt. Denn die meisten Interessierten mögen die Undurchschaubarkeit nicht – obwohl sie zur vertraulichen Arbeit von Jurys üblicherweise gehört. Auch dem Literaturwissenschaftler Espmark, der von der Akademie den Auftrag erhielt, ein Buch über die Arbeitsweise ‚der Achtzehn‘ zu schreiben, waren die Hände gebunden. Er selbst weist im Vorwort seines Werks auf den “hinderlichen Umstand“ der strengen Schweigepflicht hin. Zwar ermöglichte man ihm den Zugang zu dem ganzen Material: Briefen, Gutachten, Vorschlagslisten und Protokollen von Diskussionen. Doch zitieren durfte er aus den Schriftstücken nur, wenn sie älter als fünfzig Jahre waren. Aber Espmark meisterte die „beschwerliche Situation“, und sein Buch gehört zu den informativsten über das Thema. Letztlich jedoch wird es für die literaturinteressierte Öffentlichkeit immer ein Mysterium bleiben, auf welchem Weg die Schwedische Akademie zu ihren Entscheidungen kommt, ganz so, wie es Horace Engdahl 2004 vor Journalisten ausgedrückt hat: „Es ist ja eigentlich eine unmögliche Aufgabe, die ganze Literatur der Welt zu überblicken, aber man muss es versuchen.“

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag erscheint im November 2015 im Rahmen von Simone Frielings Buch „Ausgezeichnete Frauen. Die Literaturnobelpreisträgerinnen“ (Verlag LiteraturWissenschaft.de).