Heimatlos und ertrunken in einem Meer aus Akten

Jenny Erpenbeck widmet sich mit der Flüchtlingsproblematik in ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ einem brandaktuellen Thema

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Jedes neue Buch sollte antreten, etwas über unsere Zeit zu sagen, das seine Vorgänger eben noch nicht sagen konnten. Oder noch nicht so sagen konnten“, fordert Richard Kämmerlings in seinem 2011 erschienen Buch „Das kurze Glück der Gegenwart“. Der leitende Feuilletonredakteur der „Welt“ spricht sich darin für eine Literatur aus, die sich wieder vermehrt aktuellen, gegenwartsbezogenen Stoffen zuwenden und die Fixierung „an längst ausgiebig bearbeitete und auserzählte historische Gegenstände“ aufgeben sollte.

Dieses Credo löst Jenny Erpenbeck mit ihrem neuen Roman „Gehen, ging, gegangen“ mustergültig ein, geht es doch darin um ein Thema, dass seit Wochen, ja Monaten dauerpräsent in den verschiedensten Medien ist: die Flüchtlingskrise. Kaum vergeht ein Tag, an dem nicht über ein dringend notwendiges Einwanderungsgesetz, über Grenzzäune zwischen EU-Staaten oder über die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb Deutschlands diskutiert wird. Vergessen wird bei diesen Debatten oft, dass es bei ‚den Flüchtlingen‘ nicht um eine homogene Masse, sondern um Einzelschicksale geht. Erpenbeck gibt in dem Roman, und das ist ein großer Verdienst, jedem der aus ihrem Land Vertriebenen und Geflohenen ein individuelles Gesicht. Außerdem gelingt es ihr nicht nur thematisch, sondern auch sprachlich zu überzeugen.

Die Hauptfigur in „Gehen, ging, gegangen“ ist kein Flüchtling, sondern Richard, emeritierter Professor für Alte Sprachen, der in einem Häuschen am See am Rande Berlins wohnt. Seine Frau ist bereits seit einigen Jahren tot, Kinder hat er keine, nur ein paar Freunde melden sich gelegentlich bei ihm. Finanziell ist er abgesichert – von seiner Pension kann er gut leben. Nur wie er die Zeit, die er seit seiner Pensionierung im Überfluss hat, sinnvoll nutzen kann, ist ihm noch unklar. Wahrscheinlich wird er einfach „bis zum Ende das tun, was ihm Spaß macht. Den Kopf voran in die Grube. Nachdenken. Lesen.“ Doch eine Begegnung mit Flüchtlingen, die auf dem Berliner Oranienplatz in Zelten und Bretterbuden hausen, durchkreuzt seine Pläne eines beschaulichen Daseins im Ruhestand. Sie durchbricht seine Ordnung, die er bemüht ist, in allen Lebenslagen aufrechtzuerhalten.

Am Anfang nähert sich Richard den Flüchtlingen vor allem aus intellektuellem Interesse: Er will herausfinden, was Zeit eigentlich ist, und das „kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind“. Zunächst erstellt er deshalb einen Fragenkatalog für die Gespräche mit ihnen und liest etliche Bücher zum Thema ‚Flüchtlinge‘ und ‚Afrika‘. Von den Männern, die den Oranienplatz mittlerweile räumen mussten und nun provisorisch in einem Altersheim untergebracht sind, erfährt Richard, aus welchen Gründen sie ihre Heimat verlassen mussten und auf welch abenteuerlichen Wegen sie nach Deutschland gelangten: „Nach nicht einmal einer Stunde des Zuhörens ist er erschöpfter als nach einer seiner Vorlesungen an der Uni. Wenn eine ganze Welt, die man nicht kennt, auf einen einstürzt, wo fängt man dann an mit dem Sortieren?“

Richard, der etwas naiv und weltfremd an die Treffen mit den Männern herangeht, erkennt schnell, dass die Lebensgeschichten der von ihm Interviewten nicht in Raster gepresst werden können, sondern dass jeder seine eigene mitbringt. Bald kann er sich die Namen der Interviewten nicht mehr merken, weshalb er sich neue, unter anderem aus der griechischen Mythologie entlehnte, für sie ausdenkt. Doch nicht nur dem Protagonisten geht das so: Auch als Leser kann man ob der vielen eingeschobenen Geschichten und Personen leicht den Überblick verlieren.

Je länger sich Richard mit den Problemen der Flüchtlinge beschäftigt, desto mehr Fragen tauchen bei ihm auf: Was ist Dublin II? Wieso dürfen die Flüchtlinge in Deutschland nicht arbeiten? Was ist der Unterschied zwischen einer Duldung und einer Aufenthaltserlaubnis? Fragen über Fragen – und kaum Antworten. Erst ein Gespräch mit einem Anwalt, der sich selbstlos für die Flüchtlinge einsetzt, macht ihm klar, wie aussichtslos deren Lage ist: Sie haben kaum eine Chance, in Deutschland zu bleiben. Geradezu paradox erscheint es, dass nicht enden wollende Ströme „von Menschen, die, nachdem sie die Überfahrt über ein wirkliches Meer überlebt haben, nun in Flüssen und Meeren aus Akten ertrinken“.

Erpenbeck macht in ihrem Roman deutlich, dass ein Bleiberecht oft gar nicht an Menschen, sondern an Paragraphen und Gesetzen scheitert; sie sensibilisiert dafür, wie schwammig die Rechtslage für Flüchtlinge derzeit in Deutschland beziehungsweise in Europa ist, und zeigt, dass sich keine Behörde für die Flüchtlinge verantwortlich fühlt. Das einzige, was ihnen wirklich helfen würde, wäre ein Kind von einer deutschen Frau, wie es im Roman sarkastisch heißt. Da sich der Staat unfähig zeigt, den Gestrandeten Zuflucht zu geben, lässt Erpenbeck ihren Protagonisten und dessen Freunde aktiv werden., Sie nehmen etliche Männer in ihre Häuser auf. Hier wird der Roman allerdings unglaubwürdig: Mag es noch halbwegs plausibel sein, dass Richard den Flüchtlingen praktische Hilfe angedeihen lässt, mit Ihnen zu Ämtern fährt und dort die Kommunikation übernimmt, ein Grundstück in Ghana kauft, um einer Familie zu helfen, oder einen der Männer zu sich nach Hause einlädt, um ihn bei sich Klavier spielen zu lassen, so ist dieser Schritt etwas zu viel des Guten. Und auch das Ende des Romans, an dem die Flüchtlinge mit Richard und dessen Freunden einträchtig in dessen Garten um ein wärmendes Feuer sitzen, vermag nicht zu überzeugen: Das ist zu viel heile Welt und verkennt die Realitäten. Hier gleitet der Roman in plattes Wunschdenken ab.

Doch trotz dieser kleinen Schwäche auf den letzten 15 Seiten ist Erpenbecks Roman, dessen Titel die Deklination unregelmäßiger Verben aufgreift, die die Flüchtlinge im Deutschsprachkurs lernen, überaus gelungen. Vermag er auch nicht immer die hohe literarische Qualität des Vorgängers „Aller Tage Abend “ (2012) erreichen, so steht „Gehen, ging, gegangen“ derzeit zweifellos zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Stark ist Erpenbecks Roman vor allem in den Passagen, in denen sich Flüchtlingsproblematik, philosophische Reflexion über die Zeit und die angedeutete Vergangenheit des Protagonisten kreuzen. Dieser nähert sich nicht nur dem Leben der Flüchtlinge an und versucht diese zu verstehen, er setzt sich im Romanverlauf auch kritisch mit seiner eigenen Vergangenheit auseinander. Er dringt damit von der Oberfläche in die Tiefe vor – ein Leitmotiv des Textes – und wird „noch einmal ein Kind“, weil er alles, auch das bereits Gewusste, noch einmal neu kennenlernt. Im Roman fallen dann so eindrückliche Sätze wie „Damals“ – kurz vor dem Tod seiner Frau – „glaube ich, sagt Richard, ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte.“ Oder: „Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus?“

In die Romanhandlung verwebt finden sich immer wieder Reflexionen über das Thema „Heimat“ beziehungsweise „Heimatlosigkeit“. Was heißt es für die Flüchtlinge, plötzlich in einem neuen Land zu sein? Was hieß es damals für Richard als Bürger der DDR und Mitglied der SED, als er sich im Zuge der Wiedervereinigung von heute auf morgen in einem neuen Land befand, ohne sich von der Stelle bewegt zu haben? Wenn er selbst schon mit den Umbrüchen zu kämpfen hatte, was muss es dann erst für die Flüchtlinge bedeuten, mit einer ganz anderen Kultur konfrontiert zu sein, in der man ihnen verwehrt, Wurzeln zu schlagen? Eine räumlich zu identifizierende Heimat besitzen die aus ihrem Land Vertriebenen nicht mehr, lediglich ihre Handys verbinden sie noch mit ihrer früheren Welt: Sie sind „in den paar Funkwellen mehr zu Hause […] als in irgendeinem der Länder, in denen sie auf eine Zukunft warten“.

Jenny Erpenbeck zeigt mit „Gehen, ging, gegangen“, dass sich Gegenwartsbezogenheit und hoher literarischer Anspruch sehr wohl vereinen lassen und legt die Messlatte für zukünftige belletristische Texte, die derart aktuelle Themen behandeln, sehr hoch. Man kann schon jetzt gespannt auf die nächste Veröffentlichung dieser Ausnahmeautorin sein.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 3.11.2015 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören.

Titelbild

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman.
Knaus Verlag, München 2015.
351 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813503708

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